Bettina Baltschev

Hölle und Paradies


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      BETTINA BALTSCHEV

      Hölle und Paradies

      Amsterdam, Querido

      und die deutsche Exilliteratur

      BERENBERG

      Das Exil überanstrengte viele Herzen.

      KLAUS MANN

Prolog

      Prolog

      Emanuel Querido und Fritz Landshoff

      Das Covergirl der Vogue vom September 1991 trägt ein Kostüm mit rotem Schottenmuster und macht dazu einen Schmollmund. Das Blatt ist schon etwas lädiert, aber es muss Menschen geben, die fünfundzwanzig Jahre alte Ausgaben von Modezeitschriften kaufen. Würden sie sonst kistenweise hier herumstehen? Es gibt an diesem Ort einiges, dessen wahren Wert tatsächlich nur ein Sammler ermessen kann. Großformatige Schautafeln mit den verblichenen Anatomien von Mensch, Tier und Zelle. Schwarzweiße Porträtfotos von festlich gekleideten, melancholisch dreinschauenden Bürgern aus einer Zeit, als man Gott und Vaterland noch vertrauen konnte. Alte mechanische Schreibmaschinen, die man, so mahnt ein Schild, bitte nicht berühren soll, deren vergilbte Tasten und glänzend geschwungene Formen aber unbedingt dazu einladen.

      Ich widerstehe der Versuchung, und während ich mich durch die engen, dicht bebauten Gänge des Amsterdamer Antiquariats Kok schlängele, hier ein Buch aus einem der deckenhohen Regale ziehe, dort einen Titel im obersten Fach zu entziffern versuche, fällt mir auf, wie still es ist und dass ich die einzige Kundin im Raum bin. Links vom Eingang, hinter dem Kassentisch, ist ein junger Mann im blauen Pullover damit beschäftigt, Bücher von einem sehr hohen Stapel auf andere, niedrigere Stapel umzulagern. Schräg hinter ihm sitzt, halb verborgen hinter Büchertürmen, ein älterer Mann in einem rosafarbenen Pullover an einem alten Computer. Er hackt auf die Tastatur ein, nimmt zwischendurch ein Buch in die Hand, schlägt es auf, schlägt es wieder zu, hackt wieder. Ich fühle mich an die Kulisse eines Theaterstücks erinnert, ein aus der Zeit gefallenes, weltabgewandtes Idyll. Selbst das Läuten eines Mobiltelefons wird an diesem Ort zum Sakrileg.

      Ich schließe meine Tasche in den Garderobenschrank ein und gehe hinauf in den ersten Stock, wo sich außer boeken auch books, livres und Bücher befinden. Auf meiner Suche nach Letzteren falle ich beinahe über einen Mann im dreiteiligen Anzug und mit Hut, der auf einer Fußbank in einen französischen Gedichtband vertieft ist, so, als hätte es noch einen letzten Beweis gebraucht, dass man an diesem Ort die Zeit tatsächlich anhalten kann. Der handgezeichnete Orientierungsplan führt mich zu Regal 117, wo ich schnell finde, wonach ich suche: Arnold Zweigs Einsetzung eines Königs. Doch nicht der Titel ist es, der mich in erster Linie interessiert, sondern das Jahr und der Verlag, in dem das Buch erschienen ist: 1937 Querido Verlag Amsterdam.

      Ich hatte geahnt, dass die Geschichte, der ich folgen will, hier greifbar werden würde, die Geschichte eines der wichtigsten deutschen Exilverlage des 20. Jahrhunderts. Denn das ist der Plan: Ich möchte herausfinden, wo die Autoren und Verleger der Querido-Bücher in dieser Stadt gelebt, gearbeitet und gefeiert haben. Ich will verstehen, was diese Stadt ihnen bedeutet hat. War Amsterdam ein Paradies, weil sie zumindest zeitweise vor den Nationalsozialisten sicher waren und ihre Bücher eine geistige Heimat fanden? Oder war es die Hölle, weil das Gefühl, verbannt zu sein, nicht zu wissen, was der nächste Tag bringt, ihr Leben beherrschte? Vermutlich wird es keine eindeutige Antwort geben, aber genau dieser Ambivalenz möchte ich nachspüren.

      Nur, dass Einsetzung eines Königs das einzige Querido-Buch im Regal ist, wundert mich. Als ich, zurück im Erdgeschoss, den jungen Mann frage, woran das liegt, tippt er »Querido« und »Verlag« in seinen Computer und sagt: »Das sind besonders wertvolle Exemplare, die liegen bei uns im Magazin.« Er will wissen, ob er mir die Liste mit den vorhandenen Titeln ausdrucken soll, es sei eine sehr lange Liste, fügt er hinzu, aber ich weiß schon, was ich suche. »Haben Sie auch D-Zug dritter Klasse von Irmgard Keun?« »Bestimmt, einen Moment.« Der Mann greift zum Telefonhörer, gibt eine Nummer durch und ein paar Minuten später taucht aus den Tiefen des Antiquariats ein weiterer Mitarbeiter auf und drückt mir das Buch in die Hand. Es ist orange, ohne Schutzumschlag, der Titel ist in goldenen Buchstaben in den Leineneinband geprägt. Ein kleiner Aufkleber auf dem Einbandspiegel zeugt davon, dass dieses Buch nach seinem Erscheinen im Jahr 1938 in einer Buchhandlung in Surabaya in Indonesien verkauft wurde. An der Kasse – das Buch hat in der Tat seinen Sammlerpreis –, wickelt es der junge Mann in schlichtes graues Packpapier und wünscht mir viel Spaß beim Lesen.

      Draußen vor der Tür des Antiquariats hat mich die lärmende und blinkende Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts wieder. Gegenüber dieser Wunderkammer der Literatur hängen im Schaufenster eines Souvenirladens T-Shirts mit der Aufschrift: Good girls go to heaven – Bad girls go to Amsterdam. Im Laden daneben werden Canna Cookies und Space Pops verkauft. Ich stehe in der Oude Hoogstraat, unweit vom Dam, dem großen Platz im Herzen der Altstadt, und vom Hauptbahnhof. Obwohl es früher Nachmittag ist, schieben sich ein paar Straßen weiter bereits Touristen durchs Rotlichtviertel, während sich die Prostituierten dort in den grell ausgeleuchteten Schaufenstern vor allem langweilen und an manchen Fenstern ein Zu-vermieten-Zettel klebt. Der legendäre Ruf des Viertels als heißes Pflaster leidet, seit Amsterdam sich als familienfreundliche Kunststadt zu profilieren und die immer größer werdenden Besucherströme in die Museen zu lenken versucht, zu van Gogh, zu Rembrandt und Anne Frank. Die Wallen zwischen Dam und Nieuwmarkt, der halblegale Sumpf, um den sich so viele Legenden ranken, wird langsam trockengelegt. Wer trotzdem herkommt – und es sind immer noch sehr viele –, gibt sein Geld für Eis, Pommes und Bier aus statt für eine schnelle Nummer.

      Ich werfe einen letzten Blick in die Auslage des Antiquariats Kok. Da liegt die vierbändige niederländische Übersetzung von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, daneben der Briefwechsel von Jack Kerouac und Allen Ginsberg, Warlam Schalamows Kolyma, Victor Klemperers Tagebücher, die Gesammelten Werke von Isaak Babel, ein Bildband über Exterieurbeurteilung landwirtschaftlicher Nutztiere. Ich lese die Titel und denke, dieser Ort ist eine einzige Überforderung, weil sich jedes Buch, von dem man bisher nicht wusste, dass man es unbedingt lesen wollte, hier findet und weil es sonnenklar ist, dass ein Leben nicht reicht, all diese Bücher tatsächlich zu lesen. Man kann immer nur eine Auswahl treffen und hoffen, es ist die richtige. Und genau deshalb drehe ich mich jetzt um und gehe, in meiner Hand das kleine teure Buch von Irmgard Keun aus dem Querido Verlag Amsterdam.

      1

      Amsterdam Centraal:

      Im Nachtzug nach Amsterdam

      Amsterdam Centraal Station

      Es gibt wieder Kontrollen. Im Sommer 2015 muss ich kurz hinter der deutsch-niederländischen Grenze meinen Ausweis zeigen, das erste Mal seit zwanzig Jahren. Der Gendarm der Koninklijke Marechaussee will sichergehen, dass ich Staatsbürgerin der Bundesrepublik bin. Eben noch hat er mit einem Kollegen zwei junge Männer nach draußen geschickt. Sie hatten keinen Ausweis dabei, keinen europäischen jedenfalls, auch keine Koffer, die sie wenigstens als Touristen hätten klassifizieren können, nur ein paar Plastiktüten. Nun stehen sie auf dem Bahnsteig von Hengelo, umringt von einigen weiteren Gendarmen, die sie um zwei Köpfe überragen. Ein ganz schöner Auftrieb wegen zwei müder Männer, von denen man nur ahnen kann, aus welchem Krisengebiet sie sich bis hierher durchgeschlagen haben. »Was passiert mit ihnen?«, frage ich den Gendarmen, der meinen Ausweis studiert. »Die kommen in ein Auffanglager, da können sie dann Asyl beantragen«, antwortet er, gibt mir meinen Ausweis zurück und geht weiter. Der Zug fährt an, es ist der Intercity von Berlin nach Amsterdam. Es ist ruhig im Großraumwagen, die meisten Leute schlafen oder lesen.

      Das Buch D-Zug dritter Klasse von Irmgard Keun