ist die Anziehungskraft der Städte groß. Indios verlassen ihre Dörfer, leben in miserablen Verhältnissen und verfallen oft dem Alkohol und der Prostitution. Natürlich verlieren sie dabei ihre Kulturen und Sprachen.
Landkonflikte zwischen Großgrundbesitzern und alteingesessenen Siedlern stehen seit Jahrzehnten beinahe auf der Tagesordnung, wobei jedes Mal der Schwächere unterliegt. Oft werden kleinbäuerliche Familien von Großgrundbesitzern mit Waffengewalt vertrieben. Schon der Prophet Micha wetterte gegen die Habsucht der Reichen: „Sie wollen Felder haben und reißen sie an sich (…). Sie wenden Gewalt an gegen den Mann und sein Haus, gegen den Besitzer und sein Eigentum.“ (Mi 2,2) „Sie fressen mein Volk auf, sie ziehen den Leuten die Haut ab und zerbrechen ihnen die Knochen.“ (Mi 3,3) Auch staatliche Behörden sind mitschuldig an den Landkonflikten. Grundbücherliche Eintragungen werden gefälscht. Würden alle Vermerke im Grundbuch legale Eigentümer ausweisen, müsste beispielsweise der Bundesstaat Acre zweistöckig sein.
Neben der direkten Vertreibung gibt es auch indirekte Verdrängungsprozesse. Missernten, Krankheiten oder eben mangelnde Kenntnisse der Bodenbeschaffenheit stürzen viele in Schulden. Weil sie mit zu vielen Problemen zu kämpfen haben, sehen sich gar manche gezwungen, Teile oder das gesamte Land um einen Bananenpreis zu verkaufen. Die Abwanderung aus den ländlichen Gebieten lässt die Randbezirke der Städte wie Geschwülste anschwellen. Die Großgrundbesitzer profitieren von den Schulden der verzweifelten Siedler. Längst blickten sie mit Argusaugen auf die bereits urbar gemachten Landflächen und heimsen sie nun billigst ein. Die enorme Landkonzentration in ihren Händen macht sie zu Mega- oder Super-Großgrundbesitzern.
Seit ein paar Jahrzehnten gibt es in Brasilien eine eigene Kategorie verarmter Familien, die so genannten Bauern ohne Land. Es sind dies inzwischen Tausende von Menschen, die nach Grund und Boden suchen und manchmal auch die eine oder andere Fazenda besetzen. Immer wieder kommt es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Landlosen und der Polizei oder den Privatmilizen der Großgrundbesitzer. Brachte früher Indianermord keine Haft, scheint sich heute dieselbe Praxis bei der Ermordung von Landlosen, von Vertretern der Landarbeitergewerkschaft oder anderer Organisationen zur Verteidigung der Rechte der Landlosen zu wiederholen. Kaum einmal kommt es zu einer Verurteilung der Auftraggeber für die Mordkommandos. Besonders Frauen und Kinder sind die wehrlosesten Opfer der Landkonzentration in den Händen einiger weniger Privilegierter.
In jüngster Zeit ist das brasilianische Amazonien auch Zielregion für Migranten aus Haiti und in diesen Tagen vor allem aus Venezuela geworden.
1.3. Die Kirche der Laien pflegte ihre eigenen Riten
Die Kirchengeschichte des brasilianischen Amazonien unterscheidet sich deutlich von der Geschichte der Ortskirchen in anderen Teilen Brasiliens. Die Kirchen der anderen Regionen interessierten sich auch nicht für Amazonien. Amazonien war immer weit, weit weg. Europa schien ihnen näher zu sein. Auch in politischer Hinsicht hat Amazonien seine eigene Geschichte. Als beispielsweise das Königreich Brasilien am 7. September 1822 seine Unabhängigkeit von Portugal erklärte und zum Brasilianischen Kaiserreich wurde, blieb Amazonien noch ein Jahr lang bis zum 15. August 1823 unter der Herrschaft von Portugal.
Die Evangelisierung Amazoniens begann mit der Gründung von Santa Maria de Belém do Grão Pará im Jahre 1616. Bereits im Jahre 1617 kamen die Franziskaner vom Heiligen Antonius, 1626 die Karmeliten, 1640 die Mercedarier. Eine besondere Geschichte ist die des Jesuitenordens in Amazonien. 1636 kam der erste Jesuit, Pater Luis Figueira, nach Grão Pará. Die Jesuiten bekamen sofort die erklärte Feindschaft der portugiesischen Kolonialherren zu spüren, die keine Ordensleute wollten, weil diese die Indigenen gegen die Versklavung verteidigten. Der Einfluss der Jesuiten musste also gebrochen werden und sie wurden bereits 1661, dann wieder 1680 und schließlich definitiv 1759/60 des Landes verwiesen.
Mit der Ausweisung der Jesuiten und anderer Ordensleute blieb die Evangelisierung auf der Strecke. Die jungen Gemeinden waren plötzlich ohne Priester und Sakramente. Aber der Samen des Wortes Gottes ging dennoch auf. Da es in verschiedenen Regionen kaum noch Priester gab, übernahmen Laien die Leitung ihrer Kirche in den kleinen Weilern und Dörfern. Ein populärer Katholizismus entstand mit seinen besonderen Ausprägungen: Marien- und Heiligenverehrung, Prozessionen, Litaneien und Novenen. Iberische, indigene und afrikanische Traditionen vermischten sich. Die noch heute bis in den letzten Winkel verbreitete Volksfrömmigkeit mit ihren religiös-kulturellen Ausdrucksformen und die von Laien ehrenamtlich übernommenen Leitungsfunktionen stammen aus dieser priesterlosen Zeit.
Der relativ lang andauernden Zeit des Laienkatholizismus in Amazonien folgte am Ende des 19. Jahrhunderts eine Epoche sogenannter Romanisierung. Das kirchliche Leben sollte nun wieder auf Linie gebracht und nach den römischen Bestimmungen und Gesetzen organisiert werden. Zeichen für diesen neuen Wind aus Rom waren die Errichtung der Diözese Manaus (1892) und die Erhebung der bereits 1719 errichteten Diözese von Belém do Pará zur Erzdiözese (1906). Dazu kam die sukzessive Errichtung von Territorialprälaturen, die allesamt Ordensgemeinschaften oder Kongregationen aus Europa (später auch aus Nordamerika) überantwortet wurden. Wie ein Fleckerlteppich wurde Amazonien unter den verschiedenen Ordensgemeinschaften und Kongregationen aufgeteilt. Manche Besonderheiten und Baustile von Kirchen, Kapellen und infrastrukturellen Einrichtungen der Pfarren lassen noch heute auf das Herkunftsland der Missionare schließen.
Der Einsatz dieser Missionare und der Ordensschwestern von damals war subjektiv sicher heldenhaft. Viele schenkten ihr Leben bis zum oft frühzeitigen Tod den Völkern Amazoniens. Aber die kulturellen Besonderheiten der Region waren ihnen fremd. Sie sahen es als ihre Aufgabe an, das kirchliche Leben ganz nach den Vorschriften und Kanones Roms zu gestalten. Das gelang nur bis zu einem bestimmten Grad bei der Sakramentenspendung und den Messfeiern in lateinischer Sprache. Insgeheim aber feierten die Leute ihre Heiligen nach wie vor auf ihre Art und nach ihrem Stil. Es entstand eine Kirche mit den offiziellen Riten und Liturgien neben der Volkskirche mit ihrer besonderen Art von Frömmigkeit, ihren Riten und Liturgien.
Noch bis in die fünfziger und sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts stammten über 90 Prozent der Priester und Bischöfe in Amazonien aus Europa und Nordamerika. Ein besonderer Nachteil der Romanisierung war der Rückzug der Laienverantwortlichen. Die sakramentale Betreuung des Volkes stand im Vordergrund. Kulturelle Eigenheiten der verschiedenen Völker wurden nicht berücksichtigt. Es war die Zeit der desobrigas, der wochen- und monatelangen, zum Teil gefährlichen, vor allem aber unendlich strapaziösen Flussreisen der Missionare mit dem ausschließlichen Ziel, die Sakramente zu spenden. Vielerorts wurden die im Laufe der priesterlosen Zeit gewachsenen Traditionen der Volksfrömmigkeit als religiöse Fehlformen und synkretistische Verirrungen getadelt, ja sogar verboten. Aber die confrarias (Bruderschaften) aus jener Zeit verschwanden nie. Sie lebten weiter, wenn auch mehr oder weniger ohne das Wissen der offiziellen Kirche. Erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde ihr religiöser, kultureller und gesellschaftlicher Stellenwert neu entdeckt.
Die Kirchen der anderen Regionen Brasiliens ignorierten Amazonien. Bewusst oder unbewusst. Erst ab 1972 schien sich eine neue Ära anzubahnen, als die Vorsitzenden der Brasilianischen Bischofskonferenz den Diözesen und Territorialprälaturen Amazoniens das erste Mal in der Geschichte einen Besuch abstatteten und die Realität wenigstens ein bisschen aus der Nähe kennenlernen konnten. Als Folge dieses Besuches rief die Bischofskonferenz ein Projekt ins Leben, das den Namen Igrejas Irmãs (Schwesterkirchen) erhielt. Besser situierte Diözesen in anderen Regionen Brasiliens sollten die Prälaturen Amazoniens finanziell und mit Priestern, Ordensleuten, auch Laienmitarbeiterinnen und Laienmitarbeitern unterstützen.
Dieses Projekt auf interdiözesaner Ebene hat jedoch, mit einigen rühmlichen Ausnahmen, nie richtig gegriffen. Entweder waren die Diözesen nicht bereit, beherzte Priester mit pastoralem Eifer nach Amazonien zu senden, oder die kulturellen Unterschiede zwischen Süden und Norden machten vielen zu schaffen, sodass sie oft nach kurzer Zeit aufgaben und in die heimatlichen Gefilde zurückkehrten. Das Projekt Igrejas Irmãs funktionierte am meisten und besten bei den Ordensgemeinschaften, die Amazonien als neues Wirkungsfeld für ihr Charisma entdeckten und bis heute wertvolle seelsorgliche Arbeit leisten.
Die Distanzen zwischen den einzelnen Bischofssitzen sind immens