Группа авторов

Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten


Скачать книгу

lückenhaft“. Daher müsse in Fällen, wo „eine klare Regel im geltenden Rechte nicht enthalten ist“, an Stelle der „technischen“ eine „freie Rechtsfindung“ treten. Als Grundlage dieser freien Rechtsfindung empfiehlt E. eine an juristische Überlieferung anknüpfende „Gerechtigkeit“; im übrigen sieht er die beste Gewähr für eine gute Rechtsfindung in der Person der Richter, die ein „scharfes Auge für das Wesen der gesellschaftlichen Vorgänge“ und ein „starkes Empfinden für die Bedürfnisse der Gegenwart“ haben müssen. In seinem Buch über „Die juristische Logik“ hat E. dann eingehend dargelegt, daß es eine juristische Logik im Sinne einer Rechtsfindung durch bloßes logisches Schließen aus gesetzlichen Prämissen gar nicht gibt, |125|sondern jede Rechtsfindung eine mehr oder weniger schöpferische Gesellschaftsgestaltung ist. E.s Beitrag zur Freirechtsbewegung trägt also deren typische Merkmale: den Hinweis auf die Lückenhaftigkeit des staatlichen Rechts und die Forderung, daß der Richter seine Entscheidungen statt auf scheinlogische Ableitungen aus dem Gesetz offen auf soziologische Überlegungen stützen solle.

      Hauptwerke: Die stillschweigende Willenserklärung, 1893. – Das zwingende und nichtzwingende Recht im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, 1899. – Beiträge zur Theorie der Rechtsquellen, Tl. I (alles), 1902. – Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, 1903 (wieder in: Recht und Leben, 170ff.). – Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913 (21929, 41989). – Die juristische Logik, in: AcP 115 (1917), 125–439, Buchausg. 1918 (21925, Ndr. 1966). – Recht und Leben (hrsg. v. M. Rehbinder), 1967 (Sammlung kürzerer Arbeiten). – Gesetz und lebendes Recht: Vermischte kleinere Schriften (hrsg. v. M. Rehbinder), 1986. – Politische Schriften (hrsg. v. M. Rehbinder), 2007. – Bibliographie bei M. Rehbinder: Die Begründung der Rechtssoziologie durch Eugen Ehrlich, 21986, 143–147.

      Literatur: H. Barta u.a. (Hrsg.): Zu Eugen Ehrlichs 150. Geburtstag und 90. Todestag, Innsbruck 2013. – W. Behlert: An den Gründen der Rechtssoziologie. Zu Semen V. Pachmann und Eugen Ehrlich, in: ARSP 76 (1990), 400–406. – W. Brauneder u.a (Hrsg.): Die österreichischen Einflüsse auf die Modernisierung des japanischen Rechts, 2007 (Beitr. v. H. Akamatsu, M. Rehbinder). – A. Carrino: Eugen Ehrlich e Hans Kelsen. Una controversia sulla sociologia del diritto, 1993. – W. Friedmann: Legal Theory, 51967, 247–252. – G. Gurvitch: Grundzüge der Soziologie des Rechts, 1960 (franz. Orig. 1940), 115–122. – A. Heldrich: Eugen Ehrlich (1862–1922). Begründer der Rechtssoziologie, in: DJJH, 469–483. – I. Hensel: Eugen Ehrlich (1862–1922). Verbindungslinien zwischen Leben und Recht, in: Kritische Justiz (Hrsg.): Streitbare Juristinnen, II, 2016, 163–185. – M. Hertogh (Hrsg.): Living law. Reconsidering Eugen Ehrlich, Oxford u.a. 2009. – T. Isomura: Die systematische Struktur von Ehrlichs Rechtssoziologie, Tokyo 1953. – R. Kawakami: Eugen Ehrlich, in Brauneder: JiÖ, 253–257, 316f. – U. Lenzner: Der Vertrag im System der soziologischen Rechtslehre Eugen Ehrlichs, 2001. – M. Ludwig: Sein und Sollen. Eine Untersuchung zur Abgrenzung der Rechtsnormen von den sozialen Normen bei Max Weber und Eugen Ehrlich, 1999. – K. Papendorf (Hrsg.): Eugen Ehrlich’s sociology of law, 2014. – T. Raiser: Das lebende Recht. Rechtssoziologie in Deutschland, 1999. – M. Rehbinder: Die Begründung … (s.o.). – Ders.: Aus den letzten Jahren im Leben und Schaffen von Eugen Ehrlich, in: D. Dölling (Hrsg.): Jus humanum. FS f. Ernst-Joachim Lampe, 2003, 199–210. – U. Rein: Rechtssoziologie gegen Rechtspositivismus, in S.L. Paulson/R. Walter (Hrsg.): Unters. zur Reinen Rechtslehre, 1986, 210–231. – G. Robles: Ley y Derecho vivo. Método jurídico y sociología del Derecho en Eugen Ehrlich, 2002. – K.F. Röhl: Rechtssoziologie, 1987, 27–33. – Ders./S. Machura: 100 Jahre Rechtssoziologie. Eugen Ehrlichs Rechtspluralismus heute, in: JZ 2013, 1117–1128. – H. Rottleuthner: Drei Rechtssoziologien: Eugen Ehrlich, Hugo Sinzheimer, Max Weber, in: E.V. Heyen (Hrsg.): Historische Soziologie |126|der Rechtswissenschaft, 1986, 227ff. – H. Ryffel: Rechtssoziologie. Eine systematische Orientierung, 1974, 51–61. – Sinzheimer: JK, 187–206. – S. Vogl: Soziale Gesetzgebungspolitik, freie Rechtsfindung und soziologische Rechtswissenschaft bei Eugen Ehrlich, 2003. – K.A. Ziegert: The Sociology behind Eugen Ehrlich’s Sociology of Law, in: Int. Journal of the Soc. of Law 7 (1979), 225–273. – HRG2 I (2008), 1236 (W. Pauly). – Jur., 194f. (G. Bender). – Jur.Univ III, 770–772 (J.J. Megías Quirós). – NDB 4 (1959), 362 (E. Döhring). Weitere Literatur zur Freirechtsbewegung bei → FuchsFuchs, Ernst (1859–1929) und → KantorowiczKantorowicz, Hermann (1877–1940).

      S.

       [Zum Inhalt]

      Karl Friedrich EichhornEichhorn, Karl Friedrich (1781–1854)

      (1781–1854)

      Geb. am 20. November 1781 in Jena. Nach vierjähriger Gymnasialzeit in Göttingen 1797 dort Beginn des Rechtsstudiums (in G. lehrten damals u.a. → PütterPütter, Johann Stephan (1725–1807), G.J.F. Meister, Runde, → HugoHugo, Gustav (1764–1844)). 1801 Entschluß zur „Publizisten“-Laufbahn, also einer gelehrten Tätigkeit auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts, Promotion in Göttingen, Studienreise an die zentralen Orte des Reichs: Wetzlar (Reichskammergericht), Regensburg (Reichstag) und Wien (Reichshofrat). Im Herbst 1803 Beginn der Tätigkeit als Privatdozent in Göttingen mit einer Vorlesung über Reichsprozeßrecht. („Es war ein jämmerliches Collegium … Ich war aber mit einer gewissen Dosis von Zuversicht in meine Kenntniss und Gewandtheit ausgestattet, welche mich nicht stecken ließ und trat mit … einer Art von Unverschämtheit auf, welche bei einem Menschen von 20 Jahren ins Unglaubliche ging.“) 1804 Beisitzer des Spruchkollegiums der Fakultät, 1805 ordentlicher Professor in Frankfurt an der Oder (Nachfolger von Reitemeier). Vorlesungen über sämtliche Rechtsgebiete mit Ausnahme des Strafrechts (in Frankfurt a.d.O. lehrten damals nur drei Juristen). 1811 Berufung an die neue Berliner Universität als Professor für deutsches Recht; dort gemeinsam mit → SavignySavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861) Gründung der Zeitschrift |127|für geschichtliche Rechtswissenschaft (1815). 1817 Annahme eines Rufs nach Göttingen, wo E. seinen größten Lehrerfolg hat (oft über 300 Hörer, er muß eine Scheune als Hörsaal mieten), die Göttinger Fakultät wird durch ihn eine der größten Deutschlands (1824 im Sommer 873 Studenten). 1829 wird E. auf eigenen Wunsch, wegen einer langwierigen Krankheit, der Abschied gewährt, er zieht sich auf sein Gut Ammern bei Tübingen zurück. 1832, auf Zureden → SavignysSavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861), wieder Übernahme einer Professur in Berlin, 1834 erneut Einstellung der Lehrtätigkeit. In den folgenden Jahren noch praktische Tätigkeit als Mitglied des preußischen Obertribunals (seit 1834), des Staatsrats (ab 1838) und der Gesetzgebungskommission (ab 1842, in der Ministerzeit → SavignysSavigny, Friedrich Carl v. (1779–1861)). 1847 wird E. auf eigenen Wunsch endgültig der Abschied gewährt, mit dem Recht, die Pension außerhalb Preußens zu verzehren. Übersiedlung nach Ammern, 1853 nach Köln, wo E. am 4. Juli 1854 gestorben ist.

      E. wird oft der „Vater der deutschen Rechtsgeschichte“ genannt, da seine „Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte“ die erste im modernen Sinn wissenschaftliche, d.h. aus den Quellen geschriebene Darstellung des Stoffs und auch die erste Gesamtdarstellung der deutschen Rechtsgeschichte überhaupt ist; vor E. gab es zwar eine Wissenschaft von der deutschen Staatsgeschichte (also der politischen Geschichte), rechtshistorische Forschung beschränkte sich aber fast ganz auf die Verfassungsgeschichte. In diesem Gebiet können → Justus MösersMöser, Justus (1720–1794) „Osnabrückische Geschichte“ und in geringem Maß auch die mehr vom Gegenwartsinteresse beeinflußte „Historische Entwicklung der heutigen Staats-Verfassung des Teutschen Reichs“ → PüttersPütter, Johann Stephan (1725–1807) als Vorläufer E.s angesehen werden. Starke Einflüsse der „Göttinger Schule“ sind auch sonst erkennbar: der Pragmatismus – E. bezeichnet es als das Ziel seiner Arbeit, „eine