Daniela Schroeder

Grundrechte


Скачать книгу

Wesensgehalt wird in unserem Beispiel oben (Rn. 149) demjenigen, der vom Schuss getroffen wird, durch den Schusswaffengebrauch das Recht auf Leben entzogen. Ob hierdurch der Wesensgehalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG angetastet worden ist, entscheidet die Theorie vom relativen Wesensgehalt danach, ob der Schusswaffengebrauch im konkreten Einzelfall verhältnismäßig war.

      JURIQ-Klausurtipp

      Folgen Sie der herrschenden Theorie vom relativen Wesensgehalt, bedeutet dies für Sie in der Fallbearbeitung, dass Sie nach der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Frage der Verletzung des Wesensgehalts allenfalls – bei entsprechenden Anhaltspunkten im Sachverhalt – noch kurz auf den Wesensgehalt eingehen können bzw. müssen. Keinesfalls sollten Sie die ohnehin selten praktisch relevant werdende Problematik des Wesensgehalts aber überbewerten.

      154

      155

      

      156

      157

      Beispiel

      Ein Landesgesetzgeber ergänzt sein Schulgesetz um eine Bestimmung, nach der Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen nur anlässlich religiöser Feiertage vom Unterricht befreit werden dürfen. Diese Befreiung darf nicht für mehr als zwei Kalendertage pro Schuljahr erteilt werden. Mit dieser neuen Regelung soll insbesondere die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gefördert werden. – Das vorbehaltlos gewährleistete Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit kann nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden. Als solches kommt die in Art. 7 Abs. 1 GG gewährleistete staatliche Schulhoheit des Staates in Betracht.

      158

      

      Zwischen den widerstreitenden verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen ist im Wege der praktischen Konkordanz ein gerechter Ausgleich herzustellen mit dem Ziel, die widerstreitenden Verfassungsrechtsgüter zur jeweils optimalen Wirksamkeit zu bringen. In unserem Beispiel oben (Rn. 157) könnte die in Art. 7 Abs. 1 GG gewährleistete staatliche Schulhoheit die Glaubensfreiheit der Schülerinnen und Schüler einschränken. Der Staat ist kraft seiner Schulhoheit u.a. berechtigt, die Ausbildungs- und Unterrichtsziele und die Ausbildungs- und Unterrichtsinhalte festzulegen sowie das Unterrichtswesen zu organisieren. Hierunter fällt auch die Befugnis, zur Sicherstellung eines geregelten Schulablaufs und zur besseren Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund Regelungen zu treffen, wann Unterrichtsbefreiungen aus religiösen Gründen erteilt werden dürfen. Dieser Befugnis des Staates steht das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit gegenüber. Dieses garantiert den Schülerinnen und Schülern, einen Glauben zu haben, ihn zu bekennen und nach ihm zu leben. Daher kann ihre Grundrechtsausübung die Befreiung von bestimmten verpflichtenden Schulveranstaltungen erforderlich machen. Diese verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter sind im Wege der praktischen Konkordanz in einen gerechten Ausgleich zu bringen. Der grundrechtlichen Gewährleistung der Glaubensfreiheit als einem sehr persönlichen, der Menschenwürde nahestehenden Grundrecht wird nicht Genüge getan, wenn Schülerinnen und Schüler aus religiösen Gründen allein anlässlich religiöser Feiertage vom Unterricht befreit werden können. Die Schulhoheit muss gegenüber der für die Entfaltung der Persönlichkeit wichtigen Glaubensfreiheit zurücktreten. Das Grundrecht der Schülerinnen und Schüler auf Glaubensfreiheit wird somit durch die staatliche Schulhoheit unangemessen eingeschränkt und demnach verletzt.

      159

      Steht nicht der Eingriff in den Schutzbereich eines Freiheitsrechts durch einen parlamentarischen Rechtsetzungsakt, sondern durch einen Rechtsanwendungsakt, d.h. durch eine Maßnahme der Exekutive oder der Judikative (z.B. Rechtsverordnung, Satzung, Verwaltungsakt oder gerichtliche Entscheidung), in Rede, verläuft die Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung anders. Im Vordergrund der Prüfung steht hier die Frage, ob die Maßnahme der Exekutive oder der Judikative, d.h. der Rechtsanwendungsakt, verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes muss die Maßnahme der Exekutive oder der Judikative ihrerseits auf einem verfassungsmäßigen Parlamentsgesetz beruhen und selbst verfassungsgemäß sein. Es empfiehlt sich, diese Prüfung in drei Schritten vorzunehmen:

      JURIQ-Klausurtipp