Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum


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Garantie nur schwerlich in den Händen der Justiz liegen können. Dieses rechtliche Verständnis der Verfassung setzt seinerseits eine Reihe von Grundbedingungen voraus, die hier nur kurz erwähnt werden können. Es geht dabei um die moderne Verfassung, also die geschriebene, datierte, unterzeichnete, verkündete und veröffentlichte Verfassung:[29] also letzten Endes die Merkmale des modernen Gesetzes.[30] Es genügt hier, darauf hinzuweisen, dass die anhaltenden Mängel der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa auf die entsprechenden nicht minder anhaltenden Schwächen des europäischen Konstitutionalismus zurückzuführen sind.

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      Zweitens setzt Justiziabilität eine vindizierbare Verfassung voraus, d.h., dass sie die rechtliche Möglichkeit eröffnet, sei es von Privatpersonen oder von öffentlichen Organen in Anspruch genommen zu werden. Auch in dieser Beziehung sollte die Verfassung sich vom Rest der Rechtsordnung nicht unterscheiden.

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      Schließlich bedeutet Justiziabilität, dass die Inanspruchnahme der verschiedenen aus der Verfassung hergeleiteten Rechtspositionen, sowohl organisch wie funktionell, verfahrensmäßig, also prozedural erfolgt. Dies verlangt die Einsetzung eines unabhängigen Organs, das nach einem geregelten Verfahren und nach den Grundsätzen der wesentlichen Verfahrensgarantien agiert.

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      „Am Anfang war die Fragmentierung“: Diese treffende Feststellung von Olivier Jouanjan in Bezug auf das öffentliche Recht[31] mag wohl auch für die Verfassungsgerichtsbarkeit gelten. „Verfassungsgerichtsbarkeit“ im heutigen umfassenden, funktionell abstrakten Sinne war während eines guten Teils dieser Entwicklung keine Selbstverständlichkeit. Die historischen Erscheinungen des gerichtsförmigen Verfassungsschutzes in Europa traten zunächst in unterschiedlichen Ausgestaltungen in Europa auf. Insofern ist Verfassungsgerichtsbarkeit das Endergebnis und die Summe einer Reihe von zum Teil parallelen Entwicklungen, die auf unterschiedliche Art und Weise dazu dienten, die Verfassung operativ in Bezug auf ihre ebenfalls verschiedenen Finalitäten wirksam zu machen. Die Ziele, die die Verfassung im Laufe ihrer Entwicklung verfolgt hat, haben sich in entsprechend vielfältigen richterlichen Verfassungsgarantien niedergeschlagen.

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      In diesem Sinne und aus unserer heutigen Perspektive zeigt sich die Verfassungsgerichtsbarkeit als ein proteisches Phänomen, soweit sie die Fähigkeit besitzt, sich den verschiedenen Zielen, die die Verfassung in ihrer Entwicklung verfolgt hat, anzupassen. Nun entwickeln sich diese diversen Institutionen des gerichtsförmigen Verfassungsschutzes nicht uniform: Viel hängt von der Eigenart der jeweiligen Verfassungsbestimmungen und deren jeweiligen Schwachpunkten ab. Was vor allem zählt ist, dass diese spezifischen – und zeitlich parallel verlaufenden – Ausgestaltungen der justizförmigen Gewährleistung der Verfassung dem abstrakten Begriff der Verfassungsgerichtsbarkeit vorausgegangen sind.[32]

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      Aus all dem folgt, dass sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrer Entwicklung in Europa als ein Kompositum von an sich weitgehend autonomen Phänomenen darstellt. Ausgehend hiervon stellt sich methodologisch zunächst die Aufgabe der Dekonstruktion, d.h. einer separaten Behandlung der Hauptelemente dieser Entwicklung. Im Rahmen einer allgemeinen Behandlung des Stoffes ist allerdings Selektion dringlich geboten. In Anbetracht dessen werden drei Haupterscheinungen dieser Entwicklung als die Säulen oder vielleicht besser die Entwicklungspfade, an denen sich der heutige Verfassungsgerichtsbarkeitsbegriff später emporgerankt hat,[33] ausgewählt.

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      Sowohl wegen seiner räumlichen Verbreitung als auch wegen seiner auffälligen Permanenz soll das „richterliche Prüfungsrecht“ als erster dieser Entwicklungspfade betrachtet werden: Lange Zeit hat es als „das Alpha und Omega“ der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa fungiert. Als zweite Säule sollen die judizialisierten Verfassungskonflikte sowohl in Form von Organstreitigkeiten wie auch von föderalen Streitigkeiten behandelt werden: Insofern handelt es sich eigentlich um eine Doppelsäule. Als dritte und letzte Säule kommt die richterliche Gewährleistung der Grundrechte ins Spiel: Diese „Bürgergerichtsbarkeit“ bildet den Berührungspunkt par excellence zwischen Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit.

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      Die Verfassungsgerichtsbarkeit entwickelt sich in Europa in einem zeitlichen Rahmen, dessen nähere Bestimmung noch aussteht. In dieser Beziehung sind an erster Stelle die Optionen zu erwähnen, die den Anfang und das Ende dieser Entwicklung markieren. Auf dieser Basis soll dann der Frage nach der inneren Periodisierung dieses Rahmens nachgegangen werden. In allen diesen Punkten besteht die Hauptaufgabe darin, jeweils europarelevante Daten aufzufinden.

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      Die Festsetzung des Anfangs und des Endes dieser Evolution hat jeweils eigene Probleme aufgeworfen. Was den Anfang betrifft, ist ohne weiteres klar, dass kein europäisches Datum vor 1789 zu finden ist. Zwar gab es in den jetzigen europäischen Staaten vor diesem Datum bereits oft verschiedene Typen von „leges fundamentales“ als Vorgänger einer Verfassung, gelegentlich auch mit eigenen Vorkehrungen zu ihrer Garantie,[34] aber für die vorliegende Untersuchung ist es angebracht, sie in erster Linie aus einem praktischen Grund beiseite zu lassen, nämlich wegen ihrer begrenzten Fähigkeit, die Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie heute in Europa besteht, zu erklären.

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      Genau so schwierig ist es aber auch, das Jahr 1789 nicht als Anfang dieser Entwicklung zu sehen und wegen seiner Bedeutung nicht als europäischen Ausgangspunkt für diese Entwicklung festzulegen. Das Jahr 1789 bildet den wahren Auftakt der europäischen Geschichte, die die Form der politischen Organisation unserer Gesellschaft markiert. Die Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie heute verstanden wird, ergibt sich nicht aus einem Grundgesetz gleich welcher Art, sondern aus Verfassungen, wie sie in diesen Jahren in Europa entstehen. Seitdem, und präziser ab 1789–1791, entstehen in Europa die ersten Ausgestaltungen der modernen Verfassung und insofern Verfassungsgesetze, die an sich geeignet wären, eine Verfassungsgerichtsbarkeit im modernen Sinne entstehen zu lassen.

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      Allerdings könnte angesichts der Diversität der Modelle und der Phänomene, die während des „revolutionären Zyklus“ von 1789–1815 dem Schutz der Verfassung dienten und vor allem angesichts der Diskontinuität dieser Experimente – denn als solche sollten sie sich letzten Endes allenfalls erweisen –, die Option für ein späteres Anfangsdatum durchaus in Betracht kommen.[35] Einige Beispiele genügen, um die Verschiedenartigkeit dieser Modelle darzulegen: So etwa das bekannte Modell der „jurie constitutionnaire“ aus der Feder von Emmanuel Sieyès,[36] oder die dem „Sénat conservateur“ zugewiesene Rolle als Hüter der kargen Grundfreiheiten der napoleonischen Verfassungen[37] sowie auch das Verfahren vor dem Parlament betreffend Verfassungsverletzungen in der spanischen Cortes-Verfassung.[38] Ohne weiter darauf einzugehen, lässt sich behaupten, dass keiner dieser Mechanismen zum Schutz der Verfassung nennenswerte Kontinuität mit dem heutigen Stand der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa zeigt. Kurz gesagt, weist das Erbe des gesamten revolutionären Zyklus mehr Bezug zum Begriff der Verfassung als zu dem der Verfassungsgerichtsbarkeit auf.

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      Aus all diesen Gründen empfiehlt es sich, den Anfang dieser Darstellung auf einen späteren Zeitpunkt festzulegen, und zwar auf das Ende des revolutionären Zyklus von 1789–1815. Und so bietet sich das Jahr 1815 als Anfang sowohl für den letzten Endes bewährten, wenn auch noch schwachen europäischen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts wie seiner rudimentären Ansätze einer Verfassungsgerichtsbarkeit an. Aus dieser Perspektive ist die französische Charta von 1814 als erste Ausformulierung des dualen Modells der