Monica Claes

Handbuch Ius Publicum Europaeum


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zur Schaffung einer innerstaatlichen Abhilfemöglichkeit.

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      Eine unmittelbare Folge der großzügigen Definition des Angriffsgegenstandes ist die Gefahr einer Überschwemmung des Verfassungsgerichts mit einer Flut von Beschwerden, eine Gefahr, die auch durch die Beschränkung der Beschwerdebefugnis auf die durch den fraglichen Akt unmittelbar Betroffenen und das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung (dazu sogleich 5. und 6.) nicht beseitigt werden kann. Sowohl das BVerfG als auch das spanische Tribunal Constitucional[167] haben mit einer ständig wachsenden Anzahl von Verfassungsbeschwerden zu kämpfen gehabt, welche die Arbeitsfähigkeit des Gerichts lahmzulegen drohten. Organisatorische Gegenmaßnahmen, insbesondere die Verlagerung der Entscheidung über die weniger schwierigen Fälle auf Kammern,[168] haben hier nur begrenzt Abhilfe schaffen können. In beiden Ländern ist daher schon seit längerem über weitergehende Reformmaßnahmen diskutiert worden, insbesondere über die Einführung eines Annahmeermessens nach dem Vorbild des US Supreme Court. In Spanien führte diese Debatte 2007 zu einer erheblichen Einschränkung der Zulässigkeitsvoraussetzungen von Verfassungsbeschwerden: nach Art. 50 Abs. 1 b) LOTC sollen sie jetzt vom Tribunal Constitucional nur noch zur Entscheidung angenommen werden, wenn ihre „besondere verfassungsrechtliche Bedeutung“ (especial trascendencia constitucional) eine Entscheidung in der Sache rechtfertigt. Diese „besondere Bedeutung“ der Sache kann sich auf die Interpretation der Verfassung, ihre Anwendung oder allgemeine Wirksamkeit, aber auch auf die Bestimmung des Anwendungsbereichs und des Inhalts der Grundrechte beziehen. In einer Entscheidung des Plenums vom 25. Juni 2009[169] hat das Tribunal Constitutional eine – nicht abschließende – Aufzählung der Fälle vorgenommen, in denen davon auszugehen ist, dass eine Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf ihre besondere verfassungsrechtliche Bedeutung eine Entscheidung in der Sache rechtfertigt. Danach ist ein Eingreifen des Verfassungsgerichts insbesondere dann geboten, wenn eine verfassungsgerichtliche Rechtsprechung bisher völlig fehlt oder eine bestehende Verfassungsrechtsprechung abgeändert werden soll, aber auch dann, wenn es um die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen oder ihrer Auslegung durch die Gerichte geht.[170] In jedem Fall räumt die verfassungsgerichtliche Generalklausel dem Tribunal Constitucional einen weiten Spielraum bei der Steuerung seiner Annahmepraxis ein.

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      In den Fällen, in denen die Möglichkeit einer Urteilsverfassungsbeschwerde vorgesehen ist, stellt sich die Frage nach der Abgrenzung der Zuständigkeiten von Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit/ordentlicher Gerichtsbarkeit, zumal letzterer, oft genug in der Verfassung selbst, der Schutz der Rechte und der gesetzlich geschützten Interessen der Bürgerinnen und Bürger anvertraut ist.[171] Zwar ist die Anrufung des Verfassungsgerichts regelmäßig erst nach Abschluss des ordentlichen Rechtswegs zulässig. Dessen ungeachtet ist mit der dem Verfassungsgericht mit dem außerordentlichen Rechtsbehelf der Urteilsverfassungsbeschwerde eröffneten Möglichkeit zur Beeinflussung und sogar zur Korrektur der fachgerichtlichen Rechtsprechung im Namen der Verfassung ein erhebliches Konfliktpotenzial verbunden. Das deutsche BVerfG hat der Möglichkeit, die Verfassungs- und insbesondere die Grundrechtauslegung der Fachgerichte mit Hilfe des Instruments der Urteilsverfassungsbeschwerde bis ins Detail zu steuern, regen Gebrauch gemacht: Urteilsverfassungsbeschwerden machen über 90% aller Verfassungsbeschwerden aus.[172] Die in der Literatur gelegentlich geäußerte Kritik an einer zu weitgehenden Ingerenz des BVerfG in die Tätigkeit der Fachgerichte[173] hat sich in der Praxis jedoch nicht in institutionellen Konflikten zwischen BVerfG und Fachgerichtsbarkeit niedergeschlagen.

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      Dies gilt indessen bei weitem nicht für alle Länder, in denen die Urteilsverfassungsbeschwerde in der Verfassung verankert worden ist. In Russland hat der Oberste Gerichtshof sich wiederholt geweigert, eine Rechtssache im Lichte der Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts neu zu verhandeln, und dies selbst in Fällen, in denen das Verfassungsgericht die Neuverhandlung ausdrücklich angeordnet hatte. In anderen Fällen hat er die erfolgreichen Beschwerdeführer darauf verwiesen, ihren Fall für eine neue Verhandlung und Entscheidung vor das Prozessgericht zu bringen, unter gleichzeitigem Verweis darauf, dass das Prozessgericht an die Anordnungen des Verfassungsgerichts nicht gebunden ist.[174] Noch heftigere Formen haben die Auseinandersetzungen über die Kompetenzabgrenzung im Bereich des Grundrechtsschutzes zwischen dem Obersten Gerichtshof Spaniens und dem Tribunal Constitucional angenommen. In einer spektakulären Entscheidung vom 23. Januar 2004 verurteilte die Zivilkammer des Obersten Gerichtshofs elf Richter des Tribunal Constitucional wegen außervertraglicher Pflichtverletzung zum Schadensersatz mit der Begründung, dass sie zu Unrecht und fahrlässig eine Verfassungsbeschwerde verworfen hätten. Die verurteilten Verfassungsrichter sahen sich daraufhin gezwungen, ihre Rechte – und die Autorität „ihres“ Gerichts – durch die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zu verteidigen, der das Tribunal Constitucional – nach dem Ausscheiden der fraglichen Mitglieder aus dem Gericht – schließlich stattgab. Der Grundkonflikt zwischen dem Verfassungsgericht und dem höchsten spanischen Zivil- und Strafgericht ist damit freilich nicht gelöst.[175]

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      Primärer Prüfungsmaßstab im Individualbeschwerdeverfahren sind regelmäßig die von der Verfassung geschützten Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte.[176] Teilweise ist der Prüfungsmaßstab weiter eingegrenzt. So kann mit der Verfassungsbeschwerde in der Türkei nur die Verletzung derjenigen verfassungsmäßigen Grundrechte gerügt werden, mit denen die Verpflichtungen der Türkei aus der EMRK und den ratifizierten Zusatzprotokollen umgesetzt werden.[177] Einen anderen Ansatz verfolgt die belgische Verfassung, die den im Rahmen der Nichtigkeitsklage gewährleisteten Grundrechtsschutz zunächst auf die im Grundrechtskatalog der Verfassung enthaltenen Antidiskriminierungsgarantien und Rechte im Bildungswesen beschränken wollte, die für das Verhältnis zwischen den Gemeinschaften besonders relevant sind. Diese föderale Beschränkung hat der Verfassungsgerichtshof jedoch faktisch ausgehebelt mit der Begründung, dass prinzipiell jedes Grundrecht in gleichheitswidriger bzw. diskriminierender Weise entzogen oder verletzt werden kann. So unterliegen alle Grundrechte seinem Schutz, unabhängig davon, ob diese durch die Verfassung gewährleistet werden oder durch internationale Menschenrechtsverträge.[178]

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      Die Zulässigkeit der Einlegung einer Verfassungsbeschwerde wird in den Verfassungen und Verfassungsgerichtsgesetzen regelmäßig von dem Vorliegen einer Beschwerdebefugnis abhängig gemacht, unabhängig davon, ob es sich um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde oder eine Verfassungsbeschwerde gegen einen Einzelakt, insbesondere eine Urteilsverfassungsbeschwerde handelt. Der Beschwerdeführer muss geltend machen können, dass er durch die fragliche Regelung oder Maßnahme unmittelbar in seinen Grundrechten betroffen ist.[179] Dieses Erfordernis der subjektiven Betroffenheit entspricht der gemeineuropäischen Konzeption der Individualbeschwerde als Instrument primär zur Verteidigung individueller Rechtspositionen, wie sie sich in Art. 34 EMRK widerspiegelt. Handelt es sich um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde, so muss zusätzlich dargetan werden, dass der Beschwerdeführer bereits von der Norm selbst in seinen Grundrechten verletzt worden ist, und nicht erst durch deren Vollzug.[180]

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      Eine nennenswerte Ausnahme von dem subjektivrechtlichen Ansatz stellt vor allem das belgische Verfassungsprozessrecht dar, das für die Nichtigkeitsklage von privaten Klägerinnen und Klägern gegen Rechtssätze unter Rückgriff auf das entsprechende Institut des französischen und belgischen Verwaltungsprozessrechts lediglich ein „Klageinteresse“ (intéret à agir) fordert. Die klagende Person muss darlegen, dass die mit der Nichtigkeitsklage angegriffene Bestimmung auf sie anwendbar ist, aber auch aufzeigen, inwiefern sie sich nachteilig auf sie auswirkt oder ihr einen Schaden zufügen könnte. Ob dieser Maßstab wirklich weniger streng ist als die von den meisten Verfassungsgerichtsgesetzen geforderte Glaubhaftmachung der Verletzung eigener Grundrechte erscheint zweifelhaft, zumal die vom belgischen Verfassungsgerichtshof zur Konkretisierung dieses Maßstabs herangezogenen Kriterien sich kaum von denen zu unterscheiden