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Für nicht öffentliche Versammlungen gilt das Versammlungsgesetz nur teilweise (z. B. §§ 3, 21, 23, 28 VersG). Ob im Übrigen die Vorschriften des Polizeigesetzes herangezogen werden können, ist umstritten, wird jedoch überwiegend im Grundsatz bejaht. Dann ist z. B. die Generalklausel (§§ 3, 1 Abs. 1) Rechtsgrundlage für ein Versammlungsverbot.
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Die Vorschriften des Polizeigesetzes finden uneingeschränkt Anwendung, wenn es darum geht, rechtmäßige Versammlungen vor externen Störungen zu schützen (VGH BW, NVwZ-RR 1990, 602, 603). Nur in absoluten Ausnahmefällen ist es zulässig, in derartigen Situationen die Versammlung selbst zu unterbinden (s. u. § 9, RN 5).
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Sofern das Versammlungsgesetz nicht selbst den Polizeivollzugsdienst zum Handeln ermächtigt (vgl. §§ 12, 12 a, 13, 18 Abs. 3), bestimmt sich die Zuständigkeit für Maßnahmen nach diesem Gesetz nach der Verordnung des IM über die Zuständigkeiten nach dem Versammlungsgesetz und hiernach sind grundsätzlich die Kreispolizeibehörden zuständig.
d) Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)
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Die Befugnis, dieses (einheitliche) Grundrecht durch Maßnahmen aufgrund des Polizeigesetzes einzuschränken, wurde erstmals mit dem ÄndG 2008 geschaffen. Gleichzeitig nahm der Gesetzgeber mit § 23 a a. F. eine Norm auf, die es dem Polizeivollzugsdienst erlaubt, Verkehrsdaten der Telekommunikation zu erheben und technische Mittel einzusetzen, um den Standort eines Mobilfunkendgerätes sowie die Kennung eines Telekommunikationsanschlusses oder eines Endgerätes zu ermitteln oder Telekommunikationsverbindungen zu unterbrechen oder zu verhindern. Mit dem neuen PolG 2020 wurde dieser Bereich umfassend in den §§ 52–55 geregelt (s. u. §§ 52 ff.).
e) Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG)
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Freizügigkeit bedeutet die Möglichkeit, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, und damit das Recht, einen Ortswechsel (auch innerhalb einer Gemeinde) vorzunehmen oder zu unterlassen.
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Da Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG dem Bund die ausschließliche Gesetzgebung über die Freizügigkeit vorbehält, ist die Aufnahme des Art. 11 in § 4 verfassungsrechtlich nicht ganz unproblematisch (str.). Auf jeden Fall setzen die Schrankenbestimmungen des Art. 11 Abs. 2 GG dem Gesetzgeber enge Grenzen. Freizügigkeitsbeschränkende Maßnahmen sind z. B. die Einweisung in eine außergemeindliche Wohnung, der sog. Verbringungsgewahrsam, der Wohnungsverweis oder ein Aufenthaltsverbot (vgl. VGH BW, VBlBW 1997, 66, 67; 2005, 138, 140; VG Sigmaringen, VBlBW 1995, 289, 291). Eine Meldeauflage greift in das Recht auf Freizügigkeit ein, wenn sie auf die Meldung bei der eigenen Polizeidienststelle beschränkt ist (BVerwG, NVwZ 2007, 1439, 1441).
f) Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG)
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Die nach Art. 13 Abs. 2 und 3 GG zulässigen Beschränkungen des Rechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung werden durch § 36 näher umschrieben. Einzelheiten siehe dort. Art. 13 GG wird auch durch den sog. Großen Lauschangriff (s. u. § 50, RN 1 ff.) berührt. Ein Wohnungsverweis (s. u. § 30) tangiert Art. 13 GG dagegen nicht, da durch diese Maßnahme zwar in das Besitzrecht, nicht aber in die Privatheit der Wohnung eingegriffen wird (str., a. A. VGH BW, VBlBW 2005, 138, 139; OVG NW, NJW 2002, 2195). Für Zimmer in einer Erstaufnahmeeinrichtung ist der Schutzbereich des Grundrechts in der Regel nicht eröffnet, da sie keine Wohnung i. S. des Art. 13 Abs. 1 GG sind, wenn das dafür erforderliche Mindestmaß an räumlicher Privatsphäre wegen der konkreten Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Nutzungsverhältnisses nicht gegeben ist (VG Stuttgart, Urt. v. 18.2.2021 – 1 K 9602/18). Der Durchsuchung einer Wohnung (s. u. § 36), in der zahlreiche Personen aus verschiedenen Haushalten unter Verstoß gegen die Kontaktbeschränkungen während der sog. Corona-Pandemie ein Fest feiern, steht Art. 13 GG nicht entgegen. Der Gesundheitsschutz der Bevölkerung und der Schutz vor den gesamtwirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Folgen der Pandemie überwiegen, so dass die Eingriffsbefugnis Vorrang vor dem Grundrechtsschutz hat und der Eingriff in das Grundrecht gerechtfertigt ist (AG Bonn, Beschl. v. 28.3.2021 – 951 XIV(L) 95/21). Zu den verfassungsrechtlichen Bedenken beim Einsatz von Körperkameras in Wohnungen s. u. die Anm. zu § 44 (dazu auch Nachbaur, VBlBW 2021, 55, 59 ff.).
g) Recht auf Eigentum (Art. 14 GG)
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Das Eigentum und seine Nutzung können in mannigfaltiger Weise durch polizeiliche Maßnahmen berührt werden.
Beispiele: Beschlagnahme und Einziehung einer Sache (§§ 38, 39), Abschleppen eines Kfz, Aufbrechen einer Wohnungstür, Anordnung, eine Hecke zu schneiden, Untersagung einer Tierhaltung, Stilllegung eines Fahrzeugs, Wohnungsverweis (s. u. § 30), unabhängig davon, ob der Verwiesene Eigentümer oder (Mit-)Besitzer der Wohnung oder des Hauses ist.
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Ein Störer (§§ 6, 7) hat diese Maßnahme entschädigungslos hinzunehmen, denn die dem Eigentum innewohnende Sozialgebundenheit verpflichtet auch dazu, Sachen in einem gefahrlosen Zustand zu halten. Für den Nichtstörer (§ 9) bedeuten jedoch Eingriffe in das Eigentum ein Sonderopfer, das gem. §§ 100 ff. zu einer Entschädigung verpflichtet.
3. Nicht genannte, durch das Polizeigesetz einschränkbare Grundrechte
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Obwohl nicht in § 4 genannt, da sie nicht dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 2 Satz 1 GG unterliegen, sind die folgenden Grundrechte durch Maßnahmen aufgrund des Polizeigesetzes einschränkbar.
a) Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG)
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Die durch Art. 2 Abs. 1 GG garantierte allgemeine Handlungsfreiheit findet ihre Grenze u. a. in der verfassungsmäßigen Ordnung als Gesamtheit aller formell und materiell rechtmäßigen Rechtsnormen. Hierzu gehört auch das Polizeirecht, sodass darauf gestützte Maßnahmen zulässigerweise zu einer Beschränkung der Handlungsfreiheit führen können, wie z. B. das durch Polizeiverordnung angeordnete Taubenfütterungsverbot (BVerfGE 54, 143; VGH BW, VBlBW 1992, 26, 27; 2006, 103, 105), das Verbot von Veranstaltungen mit Kraftfahrzeugen außerhalb öffentlicher Straßen (VGH BW, NVwZ 1988, 166), das Verbot des Schächtens gegenüber einem türkischen Staatsangehörigen (BVerfGE 104, 337) oder das Gebot, bissige Hunde in der Öffentlichkeit anzuleinen (VGH BW, VBlBW 1993, 99), ebenso wie der (kurzfristige) Platzverweis (§§ 3, 1) oder eine Vorladung