vorhin von dem Buche Ibbur erzählte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich möchte wetten, er hat alles nur geträumt».
Zwakh nickte: «Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche Tücher Decke und Wände bespannen und der dürre Zunder der Vergangenheit fußhoch den Boden bedeckt; ein flüchtiges Berühren nur und schon schlägt das Feuer aus allen Ecken».
«War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst vierzig sein», sagte Vrieslander.
«Ich weiß es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen mag und was früher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein altfranzösischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich möchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kümmern und mit Fragen nach früheren Zeiten beunruhigen würde, aussuchen». – Wieder sah Zwakh bewegt zu mir herüber. – «Seit jener Zeit lebt er hier, bessert Antiquitäten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegründet. Es ist ein Glück für ihn, daß er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhängt, vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen könnten, – wie oft hat mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler Mühe eingemauert, möchte ich’s nennen, – so wie man eine Unglücksstätte einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knüpft». —
Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein Schlächter auf ein wehrloses Tier und preßte mir mit rohen, grausamen Händen das Herz zusammen.
Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, – ein Ahnen, als wäre mir etwas genommen worden und als hätte ich in meinem Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergründen.
Jetzt lag des Rätsels Lösung offen vor mir und brannte mich unerträglich wie eine bloßgelegte Wunde.
Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse nachzuhängen, – dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugänglicher Gemächer gesperrt, – das beängstigende Versagen meines Gedächtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, – alles das fand mit einem Male seine furchtbare Erklärung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte das – «Zimmer» verschlossen, das die Verbindung zu jenen Gemächern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.
Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern, vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, – nie würde ich sie erkennen können: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sproßt. Gelänge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene «Zimmer» zu erzwingen, müßte ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt, in die Hände fallen?!
Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzählte, zog mir durch den Sinn, und plötzlich erkannte ich einen riesengroßen, geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
Ja! auch in meinem Falle «würde der Strick reißen», wollte ich versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas unbeschreiblich Erschreckendes für mich an.
Ich fühlte: es sind da Dinge – unfaßbare – zusammengeschmiedet und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg führt, nebeneinander her.
Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden kann, – ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! —
Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte unter der Klinge des Messers.
Es tat mir fast weh, wie ich es hörte, und ich sah hin, ob es denn nicht bald zu Ende sei.
Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als habe er Bewußtsein und spähe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen lange auf mir, befriedigt, daß sie mich endlich gefunden.
Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte unverwandt auf das hölzerne Antlitz.
Eine Weile schien das Messer des Malers zögernd etwas zu suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plötzlich gewannen die Züge des Holzklotzes schreckhaftes Leben.
Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch gebracht.
Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine Sekunde gedauert, und ich spürte, daß mein Herz zu schlagen aufhörte und ängstlich flatterte.
Dennoch blieb ich mir – wie damals – des Gesichtes bewußt.
Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoß und spähte umher.
Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte meinen Schädel.
Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hörte seine Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt das Schnitzwerk entreißen, doch der wehrte sich und rief lachend:
«Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar mißlungen». Und er wand sich los, öffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
Da schwand mein Bewußtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis, die von schimmernden Goldfäden durchzogen war, und als ich, wie es mir schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hörte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen. —
«Sie haben so fest geschlafen, daß Sie nicht merkten, wie wir Sie schüttelten», – sagte Josua Prokop zu mir, «der Punsch ist aus, und Sie haben alles versäumt».
Der heiße Schmerz über das, was ich vorhin mitangehört, übermannte mich wieder, und ich wollte aufschreien, daß ich nicht geträumt habe, als ich ihnen von dem Buche Ibbur erzählte – und es aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen könne.
Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine Gäste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
Zwakh hängte mir mit Gewalt den Mantel und rief:
«Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre Lebensgeister erfrischen».
Nacht
Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterführen lassen.
Ich spürte den Geruch des Nebels, der von der Straße ins Haus drang, deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen, und man hörte, wie sie draußen vor dem Torweg mitsammen sprachen.
«Er muß rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum Teufelholen».
Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bückte und die Marionette suchte.
«Freut mich, daß du den dummen Kopf nicht finden kannst», brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen – wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
«Still doch! Hört ihr denn nichts?»
Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab.
Nichts.
«Was