rheiratet. Er war Vater von vier Kindern. Er befand auskömmlicher Lebensstellung. Und er war von heiterem, fast stets vergnügtem Charakter. Irgend etwas Schriftliches[3], das auf den Selbstmord Bezug hatte, fand man nicht vor, ebensowenig ein Testament. Auch hatte er keinem seiner Bekannten gegenüber jemals eine dahingehende Äußerung getan.
Nicht viel anders lag der zweite Fall. Der Artist Karl Krause war Fahrradverwandlungskünstler[4] in dem ganz nahe gelegenen Cirque Médrano. Er bezog das Zimmer Nr. 7 zwei Tage später. Am nächsten Freitag erschien er zur Vorstellung nicht. Der Direktor schickte den Theaterdiener in das Hotel. Der Theaterdiener fand den Künstler in dem nicht verschlossenen Zimmer am Fensterkreuz erhängt vor. Und zwar unter den durchaus gleichen Umständen[5]!
Dieser Selbstmord schien rätselhaft. Der beliebte Artist bezog hohe Gagen. Er war ein fünfundzwanzigjähriger junger Mann. Auch hier nichts Schriftliches, keinerlei verfängliche Äußerungen. Die einzige Hinterbliebene war eine alte Mutter. Der Sohn schickte ihr an jedem Ersten[6] 200 Mark für ihren Lebensunterhalt.
Frau Dubonnet war die Besitzerin des billigen kleinen Hotels. Für ihr war dieser zweite seltsame Todesfall in demselben Zimmer von sehr unangenehmen Folgen. Ihren Kundschaft pflegte sich fast nur aus den Mitgliedern der nahegelegenen Montmartrevarietés zusammenzusetzen. Schon waren einige ihrer Gäste ausgezogen. Andere regelmäßige Klienten waren nicht wiedergekommen. Sie wandte sich an den ihr persönlich befreundeten Kommissar des IX. Bezirkes. Er sagte ihr, alles für sie zu tun, was in seinen Kräften liege. So betrieb er die Nachforschungen nach irgendwelchen Gründen für die Selbstmorde der beiden Hotelgäste mit besonderem Eifer. Und er stellte ihr auch einen Beamten zur Verfügung, der das geheimnisvolle Zimmer bezog.
Es war dies der Schutzmann Charles-Maria Chaumié, der sich freiwillig hierzu erboten hatte. Er war ein alter Marsouin[7], Marineinfanterist mit elfjähriger Dienstzeit. Er erschien wohl geeignet, den» Gespenstern«, von denen sich die Rue Alfred Stevens erzählte, zu begegnen. Er bezog also bereits am Sonntag Abend das Zimmer. Er legte sich befriedigt schlafen.
Jeden Morgen und Abend machte Chaumié dem Polizeirevier einen kurzen Besuch, um Bericht zu erstatten. Diese beschränkten sich in den ersten Tagen darauf, dass er erklärte, auch nicht das allergeringste bemerkt zu haben. Dagegen sagte er am Mittwoch Abend, er glaube eine Spur gefunden zu haben. Aber bat er, einstweilen schweigen zu dürfen. Er hat keine Ahnung, ob das, was er glaube entdeckt zu haben, wirklich mit dem Tode der beiden Leute in irgendeinem Zusammenhang steht. Und er fürchte sehr, sich zu blamieren und dann ausgelacht zu werden. Am Donnerstag war sein Austreten ein wenig unsicherer. Doch hatte er wieder nichts zu berichten.
Am Freitag Morgen war er ziemlich aufgeregt. Er sagte, halb lachend, halb ernst, dass dieses Fenster jedenfalls eine seltsame Anziehungskraft hat. Aber steht das mit dem Selbstmorde in gar keiner Beziehung. An dem Abend dieses Tages kam er nicht mehr ins Polizeirevier. Man fand ihn an dem Haken des Fensterkreuzes aufgehängt.
Auch hier waren die Indizien bis auf die kleinste Einzelheit dieselben wie in den anderen Fällen. Die Beine baumelten auf den Fußboden. Als Strick war die Gardinenschnur benutzt. Das Fenster war zu, die Türe waren nicht verschlossen. Der Tod war in der sechsten Nachmittagsstunde eingetreten. Der Mund des Toten war weit offen. Die Zunge hing heraus.
Dieser dritte Tod im Zimmer Nr. 7 hatte zur Folge, dass noch am selben Tage sämtliche Gäste aus dem Hotel Stevens auszogen. Aber mit Ausnahme eines deutschen Gymnasialprofessors auf Nr. 16, der aber die Gelegenheit benutzte, den Mietpreis um ein Drittel zu kürzen[8]. Es war ein geringer Trost für Frau Dubonnet, als am anderen Tage Mary Garden in ihrem Rénault vorfuhr. Sie war der Star der Opéra-Comique. Und sie abhandelte ihr die rote Gardinenschnur um zweihundert Franken. Einmal weil das Glück brachte und dann – weil es in die Zeitungen kam.
Die Affäre der Rue Alfred Stevens war wenig besprochen, als sie es wohl verdiente. Die Berichte wiedergaben, knapp und kurz, meist sachlich den Polizeibericht. Diese Berichte waren das einzige, was der Student der Medizin Richard Bracquemont von der Angelegenheit wusste.
Eine weitere kleine Tatsache kannte er nicht. Sie schien so unwesentlich. Erst später, nach dem Abenteuer des Mediziners, erinnerte man sich wieder daran. Als nämlich die Polizisten die Leiche des Sergeanten Charles-Maria Chaumié von dem Fensterkreuze abnahmen, kroch aus dem offenen Munde des Toten eine große schwarze Spinne heraus.
Der Hausknecht knipste sie mit dem Finger fort, dabei rief er:
«Pfui Teufel, wieder so ein Biest![9]«
Im Verlaufe der weiteren Untersuchung sagte er dann aus, dass er, als man die Leiche des Schweizer Handlungsreisenden abgenommen hat, auf seiner Schulter eine ganz ähnliche Spinne hat laufen sehen. Aber hiervon wusste Richard Bracquemont nichts.
Er bezog das Zimmer erst zwei Wochen nach dem letzten Selbstmord, an einem Sonntag. Was er dort erlebte, hat er täglich gewissenhaft in einem Tagebuche vermerkt.
Montag, 28. Februar.
Ich bin gestern Abend hier eingezogen. Ich habe meine zwei Körbe ausgepackt und mich ein wenig eingerichtet. Dann bin ich zu Bett gegangen. Ich habe ausgezeichnet geschlafen. Es schlug gerade neun Uhr, als mich ein Klopfen an der Türe weckte. Es war die Wirtin, die mir selbst das Frühstück brachte. Sie ist besorgt um mich. Das merkt man aus den Eiern, dem Schinken und dem ausgezeichneten Kaffee, den sie mir brachte.
Ich habe mich gewaschen und angezogen. Ich habe zugeschaut, wie der Hausknecht das Zimmer machte. Dabei habe ich meine Pfeife geraucht.
So, nun bin ich also hier. Ich weiß recht gut, dass die Sache gefährlich ist. Aber ich weiß auch, dass ich auf den Grund kommen will. Ich kann mein bisschen Leben aufs Spiel setzen[10]. Hier ist eine Chance. Nun gut, ich will sie versuchen.
Übrigens waren andere auch so schlau, das herauszufinden. Nicht weniger wie siebenundzwanzig Leute haben sich bemüht, das Zimmer zu bekommen. Es waren drei Damen darunter. Es war also genug Konkurrenz da. Wahrscheinlich alles ebenso arme Teufel[11] wie ich selbst.
Aber ich habe die Stelle bekommen. Warum? Ah, ich bin wahrscheinlich der einzige, der der Polizei mit einer Idee aufwarten kann. Und das ist eine nette Idee! Natürlich war es ein Bluff.
Diese Rapporte sind auch für die Polizei bestimmt. Und da macht es mir Spaß, den Herren gleich im Anfang etwas zu sagen. Ich habe ihnen etwas hübsch vorgemacht. Wenn der Kommissar vernünftig ist, wird er sagen:
«Hm, gerade deshalb scheint der Bracquemont geeignet[12]!«
Übrigens ist es mit ganz gleichgültig, was er später sagt. Jetzt sitze ich ja hier. Und mir scheint es ein gutes Omen, dass ich meine Tätigkeit damit begonnen habe, die Herren so gründlich zu bluffen.
Ich war auch zuerst bei Frau Dubonnet. Sie schickte mich zum Polizeirevier. Eine ganze Woche lang habe ich jeden Tag da herumgelungert. Immer sagten sie:
«Sie sollen morgen wiederkommen.«
Der Kommissar war schon ganz ärgerlich über meine Hartnäckigkeit. Endlich sagt er mir kategorisch, dass mein Wiederkommen keinen Zweck hat. Er ist mir dankbar für meinen guten Willen. Aber man hat absolut keine Verwendung für dilettantische Laienkräfte.
«Wenn Sie nicht irgendeinen ausgearbeiteten Operationsplan haben…«
«Doch, ich habe einen solchen Operationsplan!«da sagte ich ihm.
Ich hatte natürlich gar nichts. Und konnte ich ihm kein Wörtchen erzählen. Aber ich sagte ihm:
«Ich will meinen Plan sagen. Er ist sehr gut, aber sehr gefährlich!«
«Ah, ich habe keine Zeit für das«,