Franziska Gehm

Die Vampirschwestern – Bissgeschick um Mitternacht


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Geistern reden. Das war natürlich ein Geheimnis. Genau wie das Hörgerät von Helene, das sie hinter ihren langen blonden Haaren verbarg, und wie das Vampirblut, das in Dakas und Silvanias Adern floss.

      Martin Graup schüttelte kurz den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck aus seiner Thermostasse, als wolle er damit all die wirren Erklärungen hinunterspülen, die er gerade von den beiden Mädchen gehört hatte. Die Ausreden der Schüler wurden immer komplizierter. Früher hieß es noch „hab verschlafen“ oder „ich musste so lange an der Ampel stehen“ oder „meine Eltern haben die Möbel umgestellt und ich habe die Haustür nicht mehr gefunden“.

      „Setzen!“, stieß Herr Graup schließlich hervor.

      Helene und Daka eilten auf ihre Plätze. Doch im letzten Moment überlegte es sich ihr Klassenlehrer anders. „Moment. Du bleibst gleich mal hier vorne“, sagte er und tippte Daka an die Schulter. Er zeigte auf einen großen Globus, der neben dem Lehrertisch stand. „Zeig uns mal die drei höchsten Berge der Welt, Dakaria.“

      Martin Graup liebte diese Übung. Er nannte sie „Die Top-3“. Er ließ Schüler die drei größten Wüsten, die drei längsten Flüsse oder die drei untersten Schichten der Erdatmosphäre aufzählen. Auch nach der Schule teilte Martin Graup die Welt gerne in die Top-3 ein. Er kannte seine Top-3 Urlaubsorte, seine Top-3 Frühstücksmüslis und seine Top-3 Freunde.

      Daka stellte ihre Tasche ab und trat widerwillig an den Globus. „Der höchste Berg“, begann sie, wobei sich ihre Stimme am Ende plötzlich hochschraubte, als wäre sie auf die höchste Tonstufe geklettert. Daka räusperte sich und setzte erneut an. „Der höchste Berg …“ Ihre Stimme war nur noch ein Quietschen.

      Sally, die in der letzten Reihe saß, kreischte als Erste los. „Voll die Schlumpfstimme!“

      „Klingt wie ein Eichhörnchen im Schnellwaschgang“, fand Lucas Glöckner, der selbst zwar aussah wie ein Wildschwein, das noch nie einen Waschgang erlebt hatte, aber eine glockenhelle Stimme hatte.

      „RUHE!“ Herr Graup ließ seinen strengen Blick über die Klasse schweifen. Dann sah er zu Daka. „Mach weiter. Und sprich bitte normal.“

      „Der höchste Berg der Welt ist der Mount Everest“, piepste Daka. Wäre sie kein extrem blasser Halbvampir gewesen, wäre sie knallrot angelaufen. So leuchteten nur die Pickel auf ihrer Stirn noch kräftiger. Fast sah es aus, als würde das Pickelkreuz blinken. Daka räusperte sich und fuhr sich mit der Hand über den Hals.

      „Hast du einen Frosch im Hals?“, fragte Herr Graup.

      „Nee, ’nen Schlumpf!“, rief Sally.

      „Tut mir leid“, piepste Daka. „Ich kann nichts dafür. Meine Stimmbänder flopsen zurzeit ständig von einer Oktave zur anderen.“ Wie zum Beweis sackte Dakas Stimme bei den letzten Worten in den Keller. Sie sprach so tief, dass jeder sibirische Männerchor Daka sofort mit Kusshand als Verstärkung aufgenommen hätte.

      „Abgefahren“, hauchte Sally, die zur Abwechslung mal weder kreischte noch kicherte.

      „Cool. Wie machst du das?“, fragte Lucas mit Knabenchorstimme.

      Ludo und Helene sahen Daka besorgt an.

      Martin Graup schloss eine Sekunde die Augen. Seit Silvania und Dakaria Tepes in seine Klasse gekommen waren, benahmen sie sich auffällig. Silvania hatte ihm gleich am ersten Schultag eine Tomate ans Hemd gedrückt. Daka war mitten im Unterricht eingeschlafen und hatte dabei gesabbert. Ein paar Tage später hatte Silvania eine Schulbank zu Kleinholz zerschlagen und jetzt machte Dakaria einen auf Stimmenkomiker. Herrn Graup war klar, dass sie ihn nur provozieren wollte. Aber da konnte sie lange warten. Scherzkekse bremste man am besten aus, indem man nicht weiter auf ihre Scherze einging.

      „Na schön, Dakaria. Dann zeig uns mal den Mount Everest.“ Er setzte sich mit einem Bein auf den Lehrertisch und verschränkte die Arme.

      Daka gab dem Globus mit den Fingern einen kleinen Schubs, woraufhin er sich zu drehen begann. Sie wusste, dass der Mount Everest in Asien lag. In Asien kannte sie sich aus. Erst vor Kurzem war sie mit Silvania bei ihrem gemeinsamen Freund Kerul in der Mongolei gewesen. Die Mongolei würde sie ganz bestimmt auf dem Globus finden. Der Mount Everest konnte dann nicht mehr weit sein.

      Doch plötzlich wurde Daka schummrig. Als würde sich nicht nur der Globus, sondern die ganze Welt drehen. Sie blinzelte. Sie schnappte nach Luft. Sie spürte ein Stechen in der Brust. Dann einen Druck auf der Brust, und schließlich ein Ziehen.

      Als der Globus stehen blieb, war das Schwindelgefühl verschwunden. Direkt vor Dakas Nase lag Asien auf dem Globus. Sie fuhr mit dem Finger über die Kugel, bis sie den Mount Everest gefunden hatte. „Da liegt er. Der höchste Berg der Welt!“ Daka streckte die Brust heraus und sah selbstbewusst in die Klasse.

      Lucas Glöckner starrte auf Dakas Brust. „Der Mount Everest“, hauchte er fassungslos.

      Unwillkürlich schoss Dakas Hand nach oben auf ihre Brust. Links war alles, wie es sein sollte. Schön flach. Die Daka’sche Tiefebene. Doch schlotz zoppo! Was war das rechts? Dort war eine Beule, so groß wie ein Tennisball, die Daka aber mindestens so groß wie der Mount Everest vorkam. Sie hatte von einer Sekunde auf die andere eine Brust bekommen! Eine richtige, echte Frauenbrust. Mitten am helllichten Tag. Mitten im Unterricht. Neben einem Globus. Vor der gesamten Klasse.

      Es war furchtbar.

      Andereseits: Immerhin, es war nur eine.

      Doch wenn Lucas Glöckner Dakas Brustbeule gesehen hatte, würde sie auch allen anderen gleich auffallen.

      Mit einem Satz verschwand Daka hinter dem Globus. Sie warf Helene und Ludo verzweifelte Blicke zu.

      „Das war richtig, Daka. Du brauchst dich nicht zu verstecken“, sagte Martin Graup, der von Dakas plötzlichem ganz persönlichen Gipfelsturm nichts mitbekommen hatte. Er nahm einen Schluck aus seiner Hund-Katze-Kuscheltasse und fragte: „Und wie heißt der zweithöchste Berg?“

      „Das würde ich Ihnen wirklich gerne sagen, Herr Graup“, piepste Daka und schob sich und den Globus mit seitlichen Tippelschritten Richtung Tür, „aber leider muss ich ganz dringend mal wohin. Wissen Sie, ich hab an den ganzen Schnee auf dem Mount Everest gedacht und die Kälte und den langen Weg zum Gipfel und deswegen … na ja“, fuhr Daka fort, bis sie die Tür erreicht hatte, „muss ich jetzt ganz dringend für kleine Geografieschülerinnen.“ Mit diesen Worten riss Daka die Tür auf, huschte hinter dem Globus hervor, zur Tür hinaus und verschwand auf dem Gang. Dabei presste sie den Arm über die Brust.

      Herr Graup sah Daka verstört nach.

      Doch nicht so verstört wie Lucas Glöckner.

      Sorgen sondergleichen

      Elvira Tepes saß mit einer Tasse Tee in der Hand auf einer Klobrille. Die Klobrille war mit graublauem Samt überzogen und lag auf einem Stuhl. Der Stuhl stand in einem kleinen Laden in der Innenstadt von Bindburg. Der Laden hieß „Die Klobrille“ und war Frau Tepes’ ganzer Stolz. Sie hatte den Laden erst vor ein paar Monaten eröffnet. Das Klobrillen-Geschäft boomte. Frau Tepes gestaltete Klobrillen ganz nach den Wünschen ihrer Kunden. Schon längst hatte sie die Produktpalette erweitert und bot auch Stühle mit Klobrillensitzen oder Klobrillen als Autositzbezüge an. Ihr eigener Vater, Gustav Wagenzink, hatte sich schon welche für seinen Mercedes bestellt.

      Auf der Klobrille gegenüber (sie war mit Jeansstoff bezogen) saß Mihai Tepes. Er holte gerade ein Blutröhrchen aus der Innentasche seines Jacketts und tröpfelte sich etwas Blut in den Kaffee. Mihai Tepes arbeitete im rechtsmedizinischen Institut, wo zum Glück immer genügend Blutproben im Kühlschrank lagerten. So viele, dass keiner merkte, wenn das eine oder andere Blutröhrchen fehlte.

      „Nun erzähl doch schon! Was ist passiert? Wieso musstest du sie mitten am Tag in der Schule abholen?“, fragte Elvira Tepes und rutschte bis an die Kante der Samtklobrille.

      „Moment. Die Zeit muss sein. Oder willst du, dass ich deinen nächsten Kunden leer sauge?“ Mihai Tepes nahm einen kräftigen Schluck von seinem Blutkaffee. Er fuhr sich über den Schnauzbart, der sich kringelte wie zwei Lakritzschnecken. „Beruhige