Franziska Gehm

Die Vampirschwestern – Ein zahnharter Auftrag


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anziska Gehm

      Die Vampirschwestern – Ein zahnharter Auftrag

      Molch ist gesund

      Es war ein goldener Oktobernachmittag. Die Reihenhaussiedlung am nördlichen Rand der Großstadt döste vor sich hin wie ein satter, fauler Hund. Jacob Barton schlurfte mit Stoffturnschuhen über den Gehweg. Sie waren eine halbe Nummer zu groß. Aber sie kamen aus London. Jacob sah auf den rechten Schnürsenkel, der sich gelöst hatte. Er dachte an die Spaghetti, die er sich gleich zu Hause warm machen würde. Vielleicht würde er noch ein Ei dazugeben. Ein Ei hat Eiweiß. Eiweiß macht Muskeln. Und davon hatte Jacob seiner Meinung nach zu wenig.

      Jacob schob seine Umhängetasche nach hinten und zog mit der anderen Hand seine Jeans hoch. Sie war eine ganze Nummer zu groß. Jacob bog auf die Hauptstraße. Bis zur U-Bahn-Station Nordheide waren es nur noch wenige Schritte. Kurz vor der Rolltreppe blieb Jacob stehen. Er riss die Umhängetasche auf und kramte mit beiden Händen darin. Er kramte in der linken Ecke. Sein Kopf sank zwei Zentimeter nach unten. Er kramte in der rechten Ecke. Sein Kopf sank vier Zentimeter nach unten. Er kramte in der Mitte. Seine rotblonden Haare berührten den Taschenrand. Gleich wäre Jacobs Kopf in der Tasche abgetaucht.

      Hätte nicht …

      AAAAAHHHH!

      FUUUUMPFS!

      SCHLOTZ ZOPPOOO!

      … plötzlich jemand geschrien.

      Jacobs Kopf schoss nach oben. Er sah zum unteren Ende der Rolltreppe. Er riss die Augen auf. Sein Unterkiefer klappte nach unten.

      Am unteren Ende der Rolltreppe lag ein Knäuel. Es bewegte sich. Und stieß Schreie aus. Jacob vermutete, dass es ein Menschenknäuel war. Aber ganz sicher war er sich nicht. Das Geschrei war tierisch, die Bewegungen glichen denen eines Flummiballs.

      „Festhalten!“, rief eine hohe Stimme.

      „Boi noap“, stöhnte eine raue Mädchenstimme.

      „Das schaffst du“, sagte ein Junge.

      Jacob kniff die Augen zusammen. Er sah in die dunkle Tiefe des U-Bahn-Eingangs. Waren sie das wieder? Die verrückten Hennen?

      Beinahe wäre Jacob auf der Rolltreppe nach unten gefahren, um den Verknäulten zu helfen (wenn ihnen überhaupt noch zu helfen war), hätte nicht …

      AAAAAHHHH !!!

      … schon wieder jemand geschrien.

      Ganz spitz. Ganz laut. Ganz nah bei seinem Ohr. Jacob zuckte zusammen. Er schrie kurz auf. Nur zur Sicherheit. Direkt vor ihm stand sie. Eine der verrückten Hennen. Wie aus dem Nichts war sie aufgetaucht. Oder hatte er sie auf der Rolltreppe nur übersehen? Jacob blinzelte.

      Die verrückte Henne blinzelte aus zwei lindgrünen Augen zurück.

      „Hoi! Äh … ich meine, hallo! Schön, dich mal wieder zu sehen. Wir sind ja schon eine ganze Weile nicht mehr aneinander vorbeigerollt, stimmt’s?“ Die verrückte Henne blinzelte dreimal schnell hintereinander, wickelte eine Haarsträhne um den Finger und lächelte. „Und dann jetzt gleich so ein toller Zusammenstoß, was?“

      Jacob zog eine Augebraue hoch. Das war alles.

      „Das ist … das ist … ganz toll, nicht wahr? Ein ganz toller Zusammenstoß, genau, das ist es. Boibine! Ich meine, super.“ Das Mädchen lächelte. Dann sah es zu Boden.

      Jacob nickte langsam. Er sah die verrückte Henne genauer an. Um ihre Augen hatten sich kleine rote Kringel gebildet. Sie erinnerten ihn an Saturnringe. Vielleicht, weil ihm das Mädchen insgesamt etwas außerirdisch vorkam. Bis auf die roten Ringe war ihre Haut blass. Sehr blass. Auf ihrer Stirn konnte man ein feines blaues Äderchen erkennen. Sie hatte lange braune Wimpern und feine, verwegen geschwungene Augenbrauen. Ihre lindgrünen Augen schimmerten wie zwei Blätter in einem glasklaren Bach an einem Frühlingstag.

      Die rotbraunen Haare quollen unter einem Hut aus lauter Stoffblumen hervor. Der Hut erinnerte Jacob an Uroma Agnes. Es gab ein Foto von ihr im Strandbad. Uroma Agnes trug eine Badekappe. Aus lauter Plastikblumen. Sie ähnelte dem Blumenhut sehr. Todschick und der letzte Schrei.

      Gewesen.

      Vermutlich so um 1948.

      Jacob hatte die verrückte Henne schon mindestens zweimal an der U-Bahn-Station Nordheide gesehen. Mindestens zweimal war sie dabei die Rolltreppe rücklings auf dem Handlauf wie ein Rodeoreiter nach unten gefahren. Sehr extravagant.

      „Ich bin übrigens Silvania. Jetzt, wo uns das Schicksal hat zusammenstoßen lassen, können wir uns doch gleich mal kennenlernen, oder nicht?“ Silvania hielt Jacob ihre Hand entgegen.

      Jacob zögerte einen Moment. Er blickte auf den großen, runden Ring am Mittelfinger des Mädchens. Er sah aus wie ein Auge. Die Pupille bewegte sich. Jacob hob schnell den Blick und sah lieber in Silvanias lindgrüne Augen. Er schüttelte ihre Hand. Sie fühlte sich zart und kühl an. Und ganz weich. „Jacob.“

      Silvania grinste.

      Jacob grinste.

      Silvania wickelte eine rotbraune Haarsträhne um den Zeigefinger und schielte abwechselnd zu Jacob und in den blauen Herbsthimmel. Himmel. Jacob. Himmel.

      Jacob steckte die Hände in die Hosentaschen und sah auf seine Schnürsenkel. Er dachte nicht mehr an Spaghetti.

      „Wohnst du auch hier in der Gegend?“, fragte Silvania.

      Jacob schüttelte den Kopf. „Gebe hier nur Nachhilfe.“

      „Nachhilfe. Toll!“ Silvania grinste. „In welchen Fächern?“

      Jacob kratzte sich hinter dem Ohr. Nachhilfe war toll? Na ja. „Meistens Englisch. Manchmal auch Mathe.“

      Die lindgrünen Augen funkelten. „Englisch! Ich lie…“ Silvania hüstelte. „Ich meine, ich bin grottenschlecht in Englisch. Wirklich, vollkommen hoffnungsloser Fall. Kann mir keine Vokabeln merken. Genau genommen kann ich kein einziges Wort.“

      Jacob runzelte die Stirn. „Das glaube ich nicht. Garantiert weißt du, was zum Beispiel Milch auf Englisch heißt.“

      Die verrückte Henne dachte lange nach. Sie streckte die Zunge vor Anstrengung heraus. Sie zog die Augenbrauen zusammen. Das blaue Äderchen auf ihrer Stirn krümmte sich. Dann lächelte sie auf einmal. „Ich hab’s!“, sagte sie und wippte auf den Zehenspitzen. „Molch!“ Sie sah Jacob triumphierend an.

      Jacob riss entsetzt die Augen auf. „Du bist ja echt grottenschlecht!“

      „Sag ich doch.“ Die verrückte Henne grinste.

      „Du brauchst Nachhilfe.“

      Silvania nickte heftig. „Intensivnachhilfe.“

      Da hatte die verrückte Henne recht, dachte Jacob. Er sah sie einen Moment mitleidig an. „Ich sag’s dir gleich: Eine Stunde bei mir kostet fünf Euro fünfundfünfzig.“

      Silvania zog die Augenbrauen hoch. Sie zählte etwas an den Fingern ab. Sie runzelte die Stirn. Dann lächelte sie wieder. „Geht klar. Meine Oma sagt immer: Bei Bildung und bei Schuhen darf man nicht auf den Preis, sondern nur auf Qualität achten. Oder meinte sie Bikinis und Schuhe? Na, egal, auf jeden Fall kann Oma Zezci perfekt Englisch.“

      Jacob nickte mit offenem Mund. Schuhe, Bikinis, Bildung. Alles klar.

      „Geht es bei dir gleich morgen?“, fragte Silvania.

      „Morgen finde ich gut. Wir sollten schnellstens anfangen. 15 Uhr?“

      Während die verrückte Henne ihm die Adresse aufschrieb, sah er zur Rolltreppe. Das Menschenknäuel hatte sich gelöst. Zwei Mädchen und ein Junge kamen die Rolltreppe heraufgefahren. Der Junge hatte halblange dunkle Haare. Er starrte ernst und eisern in die Luft wie ein Soldat bei einer Parade. Auf der Stufe hinter ihm stand ein schlankes blondes Mädchen. Zwischen dem blonden Mädchen und dem Jungen klemmte die zweite verrückte Henne. Jacob erkannte ihre schwarze Stachelhaarfrisur sofort.

      „Dann sehen wir uns also morgen.“ Silvania atmete lautstark aus, als sie Jacob den Zettel mit der Adresse gab. „Unsere erste Nachhilfestunde.“

      Jacob steckte den Zettel in die Hosentasche. Er zog seine