Gabriel Ferry

Der Waldläufer


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Lügen zu täuschen? Weiß ich nicht, daß bei dem ersten Gerücht von meinem Tod, der durch nichts bestätigt wurde, die zarte Sorgfalt erwachte, die Ihr dem Grafen von Mediana und dem reichen Majorat, das ihm gehört, geweiht hattet; daß der Zweck aller Eurer Intrigen nur der gewesen ist, den Ältesten in den Netzen zu fangen, die Ihr für den zweiten nur aufgestellt hattet, weil Ihr das formelle Versprechen seines Bruders kanntet?«

      Die Gräfin antwortete nichts. Geschah dies vielleicht darum, weil die Anklagen des unerbittlichen Richters, in dessen Hände sie so plötzlich gefallen war, nicht so laut sprachen als ihr Gewissen? Oder verschmähte sie es, auf diese Anklage einer maßlosen Habgier zu antworten?

      Don Antonio fuhr fort: »Lassen wir diese Anschuldigungen aus der Vergangenheit; ich bin nicht hierher gekommen, um Euch die zärtlichen Vorwürfe eines verratenen Liebhabers hören zu lassen – ich habe einen ernsten Zweck.«

      Er tat einen Schritt nach der Wiege.

      »Aber Ihr seht doch ein«, rief die Gräfin, »daß mein Sohn Euch nichts getan hat?«

      In diesem Schrei lag so viel mütterliche Angst, so viel Heftigkeit, so viel Jammer, daß sich in der Seele Don Antonios ein Umschwung vorzubereiten schien, ohne daß jedoch seine Züge etwas von jener kalten Strenge verloren, in der er sein Gesicht verbarg; er antwortete mit einer etwas weniger drohenden Stimme: »Wer hat Euch gesagt, daß ich der Mörder eines Kindes sein wollte?«

      »Ach, Dank Euch für Eure Barmherzigkeit, Don Antonio!« rief die Gräfin mit gefalteten Händen.

      Don Antonio fuhr fort: »Hört zuerst die Bestimmung, die ich über ihn getroffen habe, und dann werdet Ihr sehen, ob Ursache dazu da ist, meine Barmherzigkeit zu segnen. Der Knabe hat nur die Schuld auf sich, daß ein Verrat, dessen Frucht er ist, ihn zwischen mich und ein Vermögen gestellt hat, das ich meiner Erziehung nach als das meinige betrachten mußte. Er weiß noch nicht, welchen Rang ihm Gott verliehen hat, und in der unbekannten Welt, in die ich ihn versetzen werde …«

      »Oh, ich segne Euch immer noch, Don Antonio!« rief sie.

      »… wird er es niemals erfahren; denn Ihr werdet nicht mehr da sein, um ihn daran zu erinnern!« fuhr der unerbittliche Richter fort.

      »Was ?« rief die Gräfin mit einer Stimme, die von Überraschung, Erstaunen und Schreck beim ersten Laut erstickt wurde. »Was? Ihr wollt mich trennen von ihm? O nein, Ihr werdet es nicht tun!« fuhr sie, aufs Knie fallend, mit ausgestreckten Armen und bittendem Blick fort.

      Don Antonio verharrte in düsterem Schweigen. Die Gräfin glaubte in seinem Herzen eine weniger unempfindliche Saite angeschlagen zu haben, und alles, was nur die Beredsamkeit einer Mutter an Überredungskraft aufbieten kann; alles, was ihr Flehen nur Rührendes hatte: die innigsten Bitten, die diesen unabänderlichen Entschluß mildern konnten, die Anrufung menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit – alles wurde von ihr in Tätigkeit gesetzt, um es dahin zu bringen, daß man sie nicht von ihrem Sohn trenne. Aber Tränen, Bitten, Versprechungen, Eide – alles war umsonst.

      Ein kaltes Lächeln antwortete ihren Bitten. »Wie? Glaubt denn etwa die Gräfin von Mediana, daß ich nur darum tausend Gefahren getrotzt habe, um bis zu ihr zu gelangen; daß ich nur darum ein den Augen der menschlichen Gerechtigkeit unsichtbares Netz, in dem

      ihr Ruf ungehört verhallen soll, gewebt habe, um in dem Augenblick auf meine Rache zu verzichten, wo ich diese endlich in meiner Gewalt habe? Nein, nein; mein Plan soll so ausgeführt werden, wie ich ihn entworfen habe, sofern nicht etwa«, fügte Don Antonio hinzu, indem er einen Dolch aus der Scheide zog und mit der Spitze auf die Wiege des kleinen Fabian zeigte, »ein Schrei oder ein unnützer Widerstand mich zwingen, diesen Plan zu ändern … Und in diesem Fall möge mir mein Bruder verzeihen, wenn ich sein Blut vergieße: Ihr habt es dann gewollt!«

      »O mein Gott!« rief die Gräfin. »Wirst du mir keinen Retter senden? Wirst du ein solches Verbrechen zulassen?«

      Laßt diese Rechnung mich mit Gott abschließen, Madame; was die Menschen anlangt, so werde ich, wie gesagt, keine Spur hinter mir zurücklassen. Glaubt mir also: Rechnet ja nur wenig auf die Gerechtigkeit Gottes, wenn sie schläft; auf die der Menschen, wenn sie blind ist.«

      Die Gräfin wollte noch einen letzten Versuch machen, dem Mann, der allen Bitten unzugänglich gewesen war, Schrecken einzuflößen, und mit bleicher Stirn, mit Augen, die von prophetischer Begeisterung glühten, trat sie auf ihn zu: »Hütet Euch!« sagte sie. »Die menschliche Gerechtigkeit, die Ihr verlacht, ist nicht da; aber jene Gerechtigkeit dort oben, die Ihr verspottet, wird am äußersten Ende der Welt, in den entlegensten Einöden, wo der Fußtritt des Menschen vielleicht noch niemals eine Spur zurückgelassen hat, Euch einen Ankläger, einen Richter und einen Henker erwecken.«

      »Die Zeit der Wunder ist vorüber«, sagte Don Antonio kalt; »und ich bin gewiß, sie wird niemals zurückkehren!« Dann fügte er mit ungeduldigem Ton hinzu: »Doch machen wir der Sache ein Ende; dies Kind hat zum letztenmal unter dem Dach seiner Väter geschlafen.«

      »O Gott, laß es nicht so sein!« rief Dona Luisa, indem sie an Gott das heißeste Gebet richtete, das je einem Mutterherzen entquollen ist. Dann sank sie aufs Knie vor demjenigen, den sie geliebt hatte, und rief: »Antonio, ich habe Euch so großherzig, so edel, so ehrenhaft gekannt; wollt Ihr Euch wirklich mit einem Verbrechen besudeln? O nein – es ist nur, um mich zu erschrecken, nicht wahr?«

      »Euch erschrecken?« antwortete Antonio mit sardonischem Lächeln. »Nein, wahrhaftig! Denn wenn ich alles, was Ihr sagt, wirklich gewesen bin, so ist das bei Gott ein ziemlich hübscher Vorrat von Tugenden, den ich ein wenig vermindern kann, ohne ihn zu erschöpfen. Aber die Zeit drängt«, fügte er hinzu, »und meine Leute werden ungeduldig.«

      Auf diesen kalten, grausamen Spott fand Doña Luisa keine Antwort mehr. Der Mann, der mit dem Verbrechen seinen Scherz trieb, mußte ein Herz haben, bei dem jeder Versuch, es zu rühren, fernerhin unnütz war. Seit diesem Augenblick – und nur erst von diesem Augenblick an – begriff die Gräfin von Mediana, daß alles vorbei sei. Eine unaussprechliche Betäubung bemächtigte sich ihres Geistes; ihr Körper verlor alle Spannkraft; sie dachte, sie handelte nicht mehr, sie hatte keine Idee mehr, und mit gänzlicher Ergebung erwartete sie schweigend ihr Urteil.

      In diesem weiten, ungleich erleuchteten Zimmer, wo die Windstöße mit düsterem Rauschen die langen Vorhänge erzittern ließen, sah diese Frau mit dem in Ergebung gebeugten Haupt dem Mann gegenüber, der bald kalt, bald spöttisch, bald zornig war, ganz wie ein armes Geschöpf aus, dessen Vertrag mit dem Bösen abgelaufen und das nun ganz seiner Willkür preisgegeben war. Wie dieses hatte auch die Gräfin – aber vergeblich – um Gnade oder nur um eine Frist von einem einzigen Augenblick gebeten; aber der Augenblick war da, ihre Seele gehörte ihr nicht mehr.

      Sie ging darum auch, als sie den Befehl von Don Antonio empfing, das Kind aufzuwecken und anzukleiden, auf die Wiege zu, als ob sie gar nicht mehr gewußt hätte, daß sie noch am Leben sei. Einen Augenblick kam ihr der Gedanke, einen Schrei um Hilfe auszustoßen; aber mehr der Instinkt als die Überlegung hielt sie zurück; der Tiger, in dessen Klauen sie sich befand, hielt auch das Kind fest, und sein breites Messer blitzte vor ihren Augen mit blutigem Glanz. Sie sah es in ihrer Einbildung mit dem Blut dessen befleckt, den sie mehr als ihr Leben liebte, und mit diesem schrecklichen Gedanken, der sich ihrer bemächtigte, näherte sie sich ihrem Sohn mit umschleiertem Blick, mit gebeugtem Haupt und mit einem Herzen, das nicht mehr schlug.

      Sie begann also mit mütterlicher Sorgfalt mit ihren zitternden Händen über das Antlitz ihres Sohnes zu streichen, um die Locken zu entfernen, von denen es eingehüllt war. Das Kind fühlte die sanfte Berührung der Hände seiner Mutter, öffnete die Augen, und als es im Halbdunkel die Mutter bemerkte, die es jeden Abend an seinem Bettchen erblickte, lächelte es mit seinem süßesten Lächeln und schlief wieder ein. Die Gräfin warf auf ihren Henker einen verzweifelnden Blick; der Mut verließ sie, und ihre Arme fielen schlaff an ihrem Körper nieder.

      Don Antonio machte eine drohende Gebärde; die Gräfin schauderte, neigte sich abermals über ihr Kind und drückte auf seine Lippen einen Kuß mit derselben fieberhaften Glut, die ihre Lippen versengte. Bei dieser Berührung wachte es auf, blickte mit erstaunter Miene um sich her, und seine schlaftrunkenen Augenlider schlossen sich nochmals, als ein heftiger