streicheln. Oder sie könnten darauf bestehen, das herrschaftliche Land nach einer neuen Ordnung zu vermessen; am Ende aber begnügen sie sich auch damit, den roten Hahn fliegen zu lassen. Was willst du? Das ist ein schnelles und munteres Tier.«
»Halt ein – so nicht – so nicht«, stammelte Claus aus seinen hohen Himmeln herabgeschleudert und warf entsetzt beide Hände vor. Ohne Übergang entdeckte der Fischersohn plötzlich wieder die betrunkenen Bauern um sich her, und eine unnennbare Sehnsucht befiel ihn nach der Einsamkeit des Meeres, nach Vater und Mutter und nach seinen schönen schimmernden Gedanken. »Komm«, rief er inbrünstig, »laß uns gehen.«
Allein den Magister verdroß das vornehme Absondern seines Zöglings. Mächtig stachelte es seine Eigenliebe, weil die Unverdorbenheit des Jüngeren sich noch standhaft weigerte, jenes leichtsinnige Lotterdasein anzubeten, wie es der Kleine ohne Scham noch Reue für den einzigen Trost, für die allein lindernde Salbe einer sinnlos in die Welt geschleuderten und sich nun in Knechtschaft und Zwang verzehrenden Menschheit erkannt hatte. Wie kam der Bursche dazu, etwas Besseres erstreben zu wollen als Buhlschaft, Prasserei und Rausch? So viel Anmaßung eines Unmündigen durfte nicht geduldet werden. Mit beiden Händen umklammerte der Strohblonde daher den Arm des Unschlüssigen und riß ihn mit sich.
»Wohin gehst du, Heino?«
»Ins Himmelreich, Bübchen.«
»Heino, ich traue dir nicht.« Er wollte sich loszerren. Doch den Kleinen überwältigte die Wut, heftig krallte er sich in den anderen ein und schrie mit einer Stimme, die nichts mehr von Mädchenhaftigkeit an sich hatte:
»Pfui Teufel, zieh dir ein Jungfernhemd an. Wer wird dir fürder noch die Beinlinge glauben? Schmach und Schande! Meinst du, die Welt brauche Männer, die aus einem Rosentopf wachsen?«
Da hatte er den Leichtbeleidigten, Ehrsüchtigen so weit, wie er beabsichtigte. Als ob ihm ein Peitschenhieb rund um den Rücken geknallt wäre, so bäumte sich Claus auf. Nichts mehr von Besinnung war in ihm. In diesem Augenblick wäre er über die Leichen von Vater und Mutter fortgesprungen, nur um den brennenden Schimpf zu widerlegen. Aber noch mehr geißelten den Atemlosen die Furcht und das Grauen vor dem Verlust von etwas Kostbarem. »Was kann das sein?« durchströmte es ihn noch, als ihn Heino Wichmann hinter sich her um die Ecke der kahlen Mauer herumzog. Er wußte es ganz gut und wehrte sich doch voller Schrecken gegen seine eigene Erkenntnis. Heulend warf sich den beiden Vorwärtstappenden der Wind entgegen, aus ihrer nahen Hütte kläfften zwei bösartige Hunde, und ein langer gelber Lichtstreifen zeigte den späten Gästen eine erleuchtete Kammer an.
»Hier läßt sich's wohl sein«, bestimmte Heino beinahe herrisch. Dann schlug er ein paarmal gewaltsam gegen die Bohlen der Holztür. »Macht auf, Menscher! Es gibt fürnehme Leute.«
»Eia«, rief eine helle Stimme, als die beiden Ankömmlinge eintraten. Eine blaue Wolke von Kiendampf wälzte sich ihnen entgegen. Hinten auf dem umnebelten Ziegelherd tanzten für die Nacht bereits unruhige Flammen, und in ihrem springenden Flackerlicht richtete sich mitten von dem Estrich, wo sie bisher gelegen, eine junge Dirne bis zur Brusthöhe empor, stützte sich auf die Ellbogen und ließ ihre neugierigen, grünblauen Augen musternd auf den beiden Männern ruhen. Allein bald mußte sie einzig von der unberührten Schönheit des großen schlanken Burschen gefesselt werden, von seiner deutlich bemerkbaren Scheu und Unruhe, denn sie ließ eine gelbe Katze, mit der sie bis dahin offenbar zur Ergötzung der Gäste eine kosende Neckerei getrieben, von ihrem Schoß herabspringen, setzte sich auf der Diele zurecht und wiederholte mit allen Zeichen der Befriedigung noch einmal:
»Eia.«
»Becke«, ermahnte eine rauhe Weibsstimme, deren riesenhafte, starkknochige Besitzerin neben dem Herd hockte, wo sie unausgesetzt eine Holzkelle in dem Kupferkessel herumwandern ließ, »wie oft muß ich dir sagen, du sollst nicht herumliegen und faulenzen, wenn gute Herren kommen? Bei Gott, ich dresche dir noch den Buckel voll.«
»Haltet Euer Maul«, widersprach das Mädchen völlig ungerührt und streckte der Wirtin sogar die Zunge entgegen. »Hat Euch der Stadtschreiber nicht erst neulich bedeutet, daß der Rat mich nicht missen will? Wer seid Ihr ohne mich, Ihr garstige Hexe?«
»Nun, mein Püppchen«, schluckte das Weib am Herd und schlug sich mit der Linken auf die gewaltige Brust, als ob sie dort ihren süßsauren Grimm einmauern müßte, zumal ihre übrigen Gäste, die unter einer tiefen Wandeinbuchtung saßen, bereits aufmerksam zu werden begannen. »Es freut mich weidlich, weil dir der Rat so wohlgewogen ist. Mußt aber auch hübsch auf dich aufpassen, damit es lange dauert. Und nun, mein Engel, steh auf und erkundige dich, was den Herren willkommen sei? Ein Krug Met? Oder Mostwein? Oder ein heißes Süppchen? Oder gar etwas anderes? Wir werden es an nichts fehlen lassen.«
Damit zwinkerte Frau Sibba, die Wirtin, mit ihren blau unterlaufenen Augen, die gerade noch hinter dem schmutzigen Kopftuch hervorglotzten, nach einer kleinen Nebenkammer, in der Claus nichts als ein zerwühltes Strohsacklager wahrnahm. Von der Decke schaukelte eine trübe Ölleuchte in einem halbzerbrochenen Scherben herunter, und ganz im Gegensatz zu all der Dürftigkeit war über das Fußende des Bettgestells ein rotseidener Fetzen mit eingewirkten Goldfiguren geworfen. Ein sichtliches Zeichen dafür, wie dankbar irgendein unsteter Seemann von hier geschieden.
»Steh auf, mein Täubchen«, ermunterte die Wirtin nochmals mit ihrer harten Knechtsstimme, denn die stumme Verzauberung der am Boden gefesselten, zottelhaarigen Becke dünkte sie zuviel Ehre für zwei armselig gekleidete Fischer. Was konnten solche Netzflicker auch anderes als ein paar erbärmliche Pfennige in ihren Ledertaschen bergen? Wie hoch stieg indessen das Befremden der Hausmutter, als der kleine strohblonde Ankömmling mit einer zwischen Frechheit und Herablassung schwankenden Gebärde, wie wenn das Haus und die Kammer, die Weiber und die Atzung sein unbestreitbares Eigentum wären, sich zu der liegenden Dirne niederwarf, um der Überraschten einen Kuß aufzupressen.
»Wonnige«, schrie Heino Wichmann schallend durch den gedrückten Raum, »Wonnige.« Die Gäste unter dem Mauervorsprung meckerten und klopften mit den Zinnkrügen ihren Beifall auf den Tisch. Die Dirne jedoch schlug lässig nach der tastenden Hand des Frechen, obwohl die Entrücktheit von ihr so wenig gewichen war, daß sie noch immer wortlos auf dem Estrich kniete. Aber während sie sich die Haare zurückschob, saugten sich ihre glänzenden Augen auffordernd und hungrig an dem blassen Antlitz des erstarrten Burschen fest. Gerade seine ungläubigen, kindlich verstörten Züge schienen ihr Mitleid zu erregen, denn die gemalten Lippen der Becke bewegten sich, als ob sie diesem eigenartigen Besucher Trost zusprechen wollte.
»Fein's Bübchen«, murmelte sie unhörbar.
Da klammerte der Magister seinen Arm um den Hals des Mädchens, zwinkerte nur ihr verständlich nach seinem Begleiter hinüber und flüsterte der jetzt zur Aufmerksamkeit Gezwungenen etwas ins Ohr. Das mußte ihr glatt und lockend eingehen, lachend sprang sie empor, schob sich mit einem verstohlen wiegenden Gang bis zur Schwelle, wo sie dann plötzlich und unvermutet nach der Hand des unentschlossenen Gastes griff. Starke, pulsende Schläge hämmerten aus der weichen runden Frauenhand in die schreckgebundenen Glieder des Knaben hinüber, und doch – so unbändig wütete der letzte Kampf in dem zum Niederbruch Bestimmten, daß Claus noch in diesem Augenblick jähzornig die Faust hob, schwankend, ob er nicht die wohltuende und doch so peinigende Zärtlichkeit mit einem Hieb in das rotwangige Gesicht vergelten sollte.
Wirklich, schon spannte er den Arm. Die Becke aber drängte sich noch dichter an ihn heran, überstrich ihn von unten herauf mit ihren blaugrünen Augen und sprach kosend:
»Komm – du Schöner.« Da stand er ganz still und horchte in schmerzlichem Erstaunen auf solche nie gehörten Laute. Und während die Becke seine Reglosigkeit benutzte, um ihm schmeichlerisch die flaumige Wange zu streicheln, bis sie es endlich sogar versuchte, ihren Arm um seinen Nacken zu schmiegen, da meinte der Verwandelte ganz deutlich einen Strom zu spüren, der sein früheres Bild und seine lichte Vergangenheit mit sich forttrug. Plötzlich empfand er spitze Zähne an seinem Ohr. Auf einen ungeduldigen Wink des Strohblonden war die Dirne gewandt an dem Fischer in die Höhe gesprungen, jetzt trug er die vollen Weibsglieder rittlings auf seinen Armen, und rechts und links trafen ihn die raschen, schmerzhaften Bisse. Die fraßen den letzten Rest seiner