Alfred Schirokauer

Alarm


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der sich heimlich in Sehnsucht und in spukhafter Erinnerung eines furchtbaren blutigen Tages seiner Vergangenheit aufrieb und zerfleischte. Die Gnade seines Lebens hatte nun dieses Zimmer, dieses Totenhaus geweiht und verklärt. Alles war anders geworden, geheiligt und neu belebt.

      Rutland saß wieder an dem Schreibtische vor den Papieren und Akten seines »Werkes«. Sein Gesicht war gelöst, die Schultern zuckten. Der Panzer seiner Züge und seiner Brust war geborsten. Er fühlte und wußte, hatte es voll Ohnmacht in jeder Sekunde ihrer Gegenwart empfunden, wie leblos, kalt, brutal und engstirnig er ihrem großen heißen Frauentume gegenüberstand und ihrer rückhaltlosen freien Menschlichkeit. Er schämte sich seiner schmerzlichen Unzulänglichkeit. Es war ihm unmöglich gewesen, gleich durch die eiserne Schicht — hart wie die Stahlplatten, die sein Werk fabrizierte —, die sein Gefühlsleben umpanzerte, hindurchzudringen. Er bekannte sich, daß er klein gewesen war, ihrer Größe, ihrem großzügigen Allesgewähren gegenüber — damals in Japan und heute wieder.

      Alle diese Jahre in diesem Hause hatte er nur dieses Wiedersehen erharrt, nur ihm gelebt, ohne Hoffnung, daß es je Wirklichkeit werden könne —, und als sie gekommen war, hatte die leichenhafte Vergangenheit wieder über die lebensvolle Gegenwart triumphiert.

      Er erhob sich und durchmaß den Raum.

      Sie hatte den Weg gewiesen. Er wollte ihn gehen.

      Er wollte beichten, ihr alles bekennen und erklären.

      Es würde für ihn eine Befreiung sein und für sie ein Begreifen. Ein tragisches, vielleicht vernichtendes. Sie würde dann einsehen, daß von allen Menschen dieser Erde er am unfähigsten war, in eine fremde Ehe hineinzugreifen, er am wenigsten dazu berechtigt war, ja, daß er vor sich und seinem Gewissen ein Recht auf Leben nur beanspruchen konnte, wenn ihm die Ehe das unantastbarste Heiligtum unter allem Heiligen dieser Welt war. Das würde sie dann begreifen und erkennen und sein lähmendes, entmannendes Entsetzen vor jedem leidenschaftsbetäubten Tasten an fremde Eherechte verstehen und nachempfinden.

      Ja, heute konnte er darüber sprechen. Heute vielleicht doch. Damals, in Tokio, stand er diesem eben erst erlebten Grauen noch zu nahe, damals bluteten noch alle Wunden. Doch jetzt lag das alles weit zurück, vieles war vernarbt. Jetzt wollte er ihr alles erläutern, erklären und bekennen. —

      Als Angelita in ihr Haus in Halkin Street, dicht hinter dem Schloßgarten des Buckingham-Palace, zurückkehrte, das sie mit allem Zierat und aller Behaglichkeit von dem Amtsvorgänger des Herzogs übernommen hatten, erwartete Breton sie bereits voller Eifersucht und schäumender Ungeduld.

      Sonst vermißten die Eheleute einander nicht, lebten fremd und unbeteiligt Seite an Seite dahin. Doch heute abend hatte der Herzog bei der Rückkehr von dem Chef nach seiner Gattin gefragt. Er hatte seine triftigen Gründe.

      Der Botschafter hatte seinem Ersten Rate nahegelegt, seine Besuche in der diplomatischen und gesellschaftlichen Welt möglichst zu beschleunigen, die Gegenvisiten würden sicher umgehend erfolgen, dann sollten er und die Herzogin ihre erste Festlichkeit veranstalten, um rasch in London und der »Society« warm zu werden.

      Aber dieser Wunsch des Botschafters, der ein Befehl an seinen Untergebenen bedeutete, hätte nicht unbedingt eine Aussprache der Ehegatten zu dieser Abendstunde erfordert. Im Laufe der politischen Debatte, die, nach diesem gesellschaftlichen Wink, zwischen den beiden spanischen Edelleuten einsetzte, überreichte der Chef dem Herzog ein Schreiben des Außenministers in Madrid, das wichtige diplomatische Anweisungen enthielt.

      »Lesen Sie es ruhig«, lächelte Seine Exzellenz, »wenn sich auch einige Bemerkungen über Ihre Gattin und Sie darin finden.«

      Breton las das umfangreiche amtliche Schreiben.

      Er lächelte geschmeichelt bei dem Passus: »Sie werden an dem Herzog eine vortreffliche Stütze finden. Er dürfte unser bester kommender Mann und Diplomat sein.«

      Er las mit Gleichgültigkeit die Worte: »Die reizende, geistvolle und intelligente Herzogin ist sicher ein Gewinn für unsere Vertretung in London. Sie dürfte neben Ihrer hochverehrten Gattin, liebe Exzellenz, die weibliche Anmut und Schönheit Spaniens vorteilhaft vertreten.«

      Er stutzte und beherrschte sich, wie er, der hervorragende Diplomat, sich überall beherrschte, außer in seinem Hause, außer seiner Frau gegenüber — ein Gehenlassen, eine Art Ausgleich, den er mit vielen Männern des öffentlichen Lebens teilte, als ihm aus diesem Briefe die Enthüllung einer kleinen politischen Intrigue entgegen sprang.

      »Übrigens wird die Duquesa sich in London sicher sehr wohl fühlen. Denn sie ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Mutter der Idee, Breton nach London zu schicken. Wir hatten ihn wegen seines früheren längeren Aufenthaltes in Japan und der dort gesammelten Erfahrungen eigentlich für den ersten Posten in Tokio bestimmt. Aber que femme veut, dieu le veut.

      Seine Majestät bestimmte Breton für London — auf eine Anregung der Herzogin hin. Sie hatte auch mir davon gesprochen in ihrer feinen unmerklich verführerischen Art. Ich hatte, wie gesagt, andere Pläne. Auf einem Ball im Stadtschlosse ehrte der König sie durch eine Ansprache.

      Sie äußerte den Wunsch, nach London zu gehen. Und Seine Majestät in seiner gütigen Ritterlichkeit sagte zu. Nun, liebe Exzellenz, auch in London können wir tüchtige Leute brauchen.«

      Der Herzog verzog keine Linie seines markanten schmalen altaristokratischen Gesichtes.

      »Ich wollte gern noch einige Zeit unter Ihrer bewährten Schulung arbeiten, Exzellenz, ehe ich die Verantwortung eines so wichtigen leitenden Postens übernahm«, log er gleisnerisch. »Meine Frau hat nur meinem Wunsche Ausdruck verliehen.« Und ging überlegen zur Erörterung der politischen Anregungen des ministeriellen Schreibens über.

      Doch in ihm bohrten und schwärten die verräterischen Worte des Leiters der auswärtigen Angelegenheiten des Königreiches.

      Also sie hatte diese überraschende, ihm bisher unverständliche, seine Laufbahn hemmende und verzögernde Mission nach London verursacht! Seine Eifersucht brannte in seinem Gemüte wie Salzsäure im weichen Fleische. Denn das wußte er sofort, daß hinter dieser politischen List ein Mann stand. Ein Mann, der sie nach London lockte.

      Er liebte Angelita nicht. Hatte sie nie geliebt. Es war für ihn eine spanische Konvenienzehe gewesen. Weiter nichts.

      Die Breton de Los Herreros waren ein uraltes, aber armes Geschlecht. Ein Breton war schon in der Schlacht von Xeres de la Frontera ruhmreich gefallen, jenem Kampfe, der den Arabern die Herrschaft in Spanien sicherte. Es waren Haudegen gewesen und tüchtige Staatsmänner, doch keine guten Kaufleute und Erwerber. Selbst jener Breton, der Pizarro in das Goldland Peru begleitet hatte, kehrte — fast als einziger — arm, wie er hingezogen war, in das Vaterland zurück.

      Angelita war die Tochter des Fürsten Olbrich Oybin aus einem alten deutschen, ehemals reichsunmittelbaren Geschlechte, das im Rheinlande wertvolle Kohlengruben und Montanwerke besaß. Da ihm auch reiche Silber- und Erzminen in den Pyrenäen gehörten, waren von alters her die Beziehungen der Oybin zu Spanien eng und gepflegt gewesen.

      Fürst Olbrich hatte im Verfolg dieser spanischen Verbindung eine Tochter des andalusischen Hochadels, die Condesa Geronima de la Matanza heimgeführt. Reichtum gesellte sich zu Reichtum. Die Matanza hatten fast zur gleichen Zeit, zu der jener Breton arm wie ein Pilger aus Peru heimgekehrt war, in der Havanna vorsichtiger für sich und ihre Nachkommen gesorgt. Sie gehörten noch heute zu dem begütertsten Adel des Landes.

      Doch aus den Tagen der Maurenherrschaft haftete diesem Geschlechte ein Makel an. Don Ruiz de la Matanza hatte aus dem feenhaften Lustschlosse Abdul Raman III., aus Medina-Az-Zahra zu Cordoba, diesem Märchen aus Elfenbein und Ebenholz, eine Tochter des großen und weisen Kalifen entführt. Trotz der dreitausendsiebenhundert Pagen und zwölftausend Eunuchen, die seine sechstausend Lieblingsfrauen bewachten. Seitdem strömte das orientalische Blut der Omajjaden in den altspanischen Adern der Grafen de la Matanza.

      Nach der Vertreibung der Araber aus dem Lande im Jahre 1492 war dieser fremde Einschlag ein Schönheitsfehler des Stammbaumes geworden, doch nicht seiner Früchte. Er gab den Frauen dieses Geschlechts die sehnsuchtsvollen heißen Augen, den dunklen Elfenbeinhauch der