erfahren? Die gesamte Sozietät sitzt wie eine Flotte, die sich auf dem unbewegten Meeresspiegel nicht zu rühren vermag. Schlaff hangen die Segel herab, verzweiflungsvoll schaun alle Blicke nach ihnen hinauf, ob nicht ein frisches Lüftchen sie endlich schwellen wolle. Umsonst! Das ist, als ob ein Rad in der Schöpfung gebrochen, und die ganze Maschine mit Sonne, Mond und Fixsternen in Stockung geraten sei. So sucht eine in Windstille versetzte Gesellschaft auch verzweiflungsvoll nach einem Gedanken, nach einer Vorstellung, ja nur nach einer Redensart, um sie in die Segel der Konversation zu hauchen; vergebens! Nichts will über die Lippen, nichts hörbaren Laut gewinnen. Der Mythus sagt, in solchen Zeiten fliege ein Engel durch das Zimmer, aber nach der Länge derartiger Pausen zu urteilen, müssen zuweilen auch Engel diese Flugübungen anstellen, deren Gefieder aus der Übung gekommen ist. Endlich pflegt einer sich zum Opfer für das Gemeinwesen darzubringen, er fährt mit einer ungeheuren Dummheit heraus, und damit ist der Zauber gelöset, das Band der Zungen entfesselt; die Ruder klatschen, die Segel sausen, der Kiel schwirrt lustig durch das Meer von Kunst, Stadtneuigkeiten, Politik, Krankheits- und Gesundheitsumständen, Religion und Karnevalsbällen.
Nachdem das Schweigen in der Gesellschaft, von welcher hier die Rede ist, etliche Minuten gedauert hatte, und die verschiednen Affekte der Schweigenden in die heiße Sehnsucht, ein menschliches Wort zu vernehmen, übergegangen waren, sagte das Fräulein zu Münchhausen plötzlich, wie von einem guten Geiste erleuchtet: »Es pflegt doch immer im Sommer schöneres Wetter zu sein, als im Winter.«
Nach dieser Explosion atmeten alle frei auf und fühlten sich von dem Zauber erlöset, der über ihnen gelastet zu haben schien, nachdem von unsrem Nationaltragöden so viel die Rede gewesen war. Münchhausen aber küßte dem Fräulein die Hand und versetzte: »Sie haben da eine tiefsinnige Wahrheit ausgesprochen, meine Gnädigste, und ich kenne außer Ihnen nur noch eine Dame, welche diese großartige Naturbetrachtung fest im schönen Gemüte ergriffen hat, und sie einem Dichter zu äußern pflegt, jederzeit, wo er das Glück hat, ihr zu nahn. Vergebens, daß der Dichter manches ausgehen ließ, was der Welt nicht unbekannt blieb, daß man überhaupt mit ihm von allem und jedem sprechen kann, weil er so ziemlich für alles und jedes sich interessiert, und über die Dinge, von denen er nichts versteht, gern Belehrung empfängt — vergebens alles dieses, sage ich — die Dame äußert, so oft er das Glück hat, ihr zu nahen, nur ihre Überzeugung, daß im Sommer das Wetter schöner zu sein pflege, als im Winter.«
»Unmöglich!« rief der alte Baron.
»Vielleicht unmöglich, aber gewiß wahr«, versetzte Münchhausen. »Der Dichter ist mein Freund und hat mir die Tatsache bei seinem Ehrenworte beteuert.« — Münchhausen fuhr heiter fort: »Ich wollte Ihnen einige kurze Nachrichten über meine Familie geben; hier sind sie. Der sogenannte Lügenmünchhausen ist mein Großvater, wenn unser Stammbaum in Bodenwerder recht hat. Adolph Schrotter in Düsseldorf hat ihn jüngst gemalt, wie er unter Jägern und Pächtern sein Pfeifchen schmaucht, und diesen Leuten seine Geschichten erzählt. Ein dicker Mann sitzt ihm gegenüber und hat den Rock ausgezogen, um besser zuhören zu können, in seinem Gesichte spricht sich die gläubigste Hingebung aus, und sein großer Hund, der neben ihm liegt, sieht ihm sehr ähnlich.
Adolph Schrotter hat meinen Großvater getroffen, wie kein anderer vor ihm. Das ist aber auch kein Wunder, denn mein Großvater ist ihm im Traume erschienen, er hat eine Vision von ihm gehabt. Die frommen Maler haben nicht allein Visionen, nein! die andern haben die ihrigen auch. Es malt keiner ein paar Kinder, die von zwei schlechten Kerlen totgemacht werden sollen, oder eine Kegelbahn, oder auch nur ein Porträt, ohne daß er eine Vision von diesen Dingen gehabt hätte. Und das ist der Vorteil dieser weltlichen Gesichte: Man kann immer da die Vergleichung anstellen, und urteilen, ob die Erscheinungen richtig gewesen sind, denn überall gibt es unschuldige Kinder und schlechte Kerle und Kegelbahnen, und Leute, die sich porträtieren lassen; aber bei den frommen Visionen kann man das nie, und man weiß daher auch nicht, ob die lieben Engelein und Heiligen und die Mutter Gottes so ausgesehen haben, wie die Leute behaupten, daß sie ihnen vorgekommen seien.
Daß Adolph Schrotter eine richtige Vision gehabt, bestätigte noch letzthin ein alter eisgrauer Jäger von Bodenwerder, der jetzt mit Ratten- und Mäusepulver handeln geht, und der denn endlich auch an den Rhein gewandert war. Er kam auf die Kunstausstellung, weil er glaubte, dort Geschäfte machen zu können und rief, als er das Bildchen sah: »Das ist der alte Herr, wie er leibte und lebte, wenn er von den zwölf Enten erzählte!« Das Bildchen soll jetzt, Figuren über Lebensgröße, al fresco für ******** ausgeführt werden.
Meinem Vater tat die Abstammung von diesem Manne Zeit seines Lebens den größten Schaden. Wenn er Geld erborgen wollte und auf Kavalierparole die Rückzahlung versprach, sobald sie sich tun lasse, sagten die Wucherer, mit denen er unterhandelte: »Wir bedauern sehr, aber wir können nicht dienen, denn Sie sind der Herr von Münchhausen.« Er trat in Kriegsdienste und machte als Stabsrittmeister einst einen allerdings unwahrscheinlich lautenden Rapport; der General glaubte ihm nicht, und davon war die Folge, daß eine große Schlacht verlorenging. Kabale über Kabale wurde gegen ihn gespielt; man drehte die Sache ganz herum, er erhielt in Ungnaden seinen Abschied. Nun widmete er sich dem Finanzfache, da entdeckte er ein geheimes Mittel, die edeln Metalle zu vervielfältigen, wollte es dem Staate verkaufen, aber der Staat wies ihn zurück und sagte, es sei schon gut, man wisse, daß er Münchhausen heiße. Auch aus dem Finanzfache wurde er ungnädig dimittiert, weil er ein Schwindler sei, wie es in dem Entlassungsreskripte hieß. Was hat der Staat von seiner Zurückweisung gehabt? Papiergeld mußte er machen.
Mein Vater aber hatte von seinem Geheimmittel auch nichts; er konnte es für sich nicht in Anwendung bringen, die Kosten der ersten Auslagen waren für einen Privatmann zu bedeutend. Bei zwölf Fräuleins hielt er nacheinander um ihre Hand an, aber
Die erste sagte scheu,
Die zweit‘ — ein Leu —
Die dritte spitzig,
Die vierte witzig,
Die fünfte hitzig,
Die sechste zornwinkend,
Die siebente borntrinkend,
Die achte stickeiferig sehr,
Die neunte blickschweiferig mehr,
Die zehnte rücksteiferig-hehr,
Die eilft‘, ein Bärbchen, schnipp‘sch, zwar weichend, doch gütig,
Die zwölft‘, ein Körbchen hübsch darreichend, hochmütig:
»Herr von Münchhausen, wir danken für die uns zugedachte Ehre; Sie führen uns doch nur an.«
So schlugen alle meine zwölf projektierten Mütter dem armen Manne sein Begehr ab, bloß wegen seines Namens und wegen der Erinnerung an den Großvater. Ich wäre ohne Mutter geblieben, wenn er nicht zuletzt noch bei einer dreizehnten Gehör gefunden hätte, bei einer Denkerin, die in des Großvaters Lügenbuche einen geheimen Sinn ahnete, und alles allegorisch und theosophisch auslegte. Sie gab meinem Vater ihr Jawort, nicht aus Liebe zu ihm, wie sie ihm bei der Verlobung offen sagte, sondern aus Achtung für den Großvater.
Über diese Ehe darf ich mich nicht aussprechen. Sie birgt Geheimnisse, die wieder tief in andre Geheimnisse meines tiefsten Seins verflochten sind, und welche mit mir zu Grabe gehen werden. Nur so viel mag ich Ihnen vertrauen: Eine Ehe aus Achtung für den Vater des Gatten ist für diesen die unglückseligste unter den unglückseligen Ehen. »Die unglückliche Ehe aus Delikatesse« von Schröder bedeutet gar nichts dagegen, und die Heirat durch ein Wochenblatt gründet ein Paradies, mit der Achtungs-Ehe verglichen.
Theophilus, Freiherr von Münchhausen, (so heißt der Mann, welcher vor der Welt mein Vater heißt;) ergab sich ganz den ernstesten Studien, nachdem es ihm im Leben und in der Ehe so äußerst schlecht gegangen war. Er wurde ein großer Wassertrinker, und ich habe ihn, während ich in Bodenwerder verweilte, nur dreimal lächeln sehen.
Meine früheste Jugend verlebte ich durch eine seltsame Verkettung von Zufall, Schickung und Leidenschaft unter dem Vieh, und zwar bei einer Ziegenherde am Öta. Was ich da erfahren, will ich Ihnen späterhin erzählen, für jetzt nur