Theodor Fontane

Quitt


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Oben auf Wang in der Kirche war es wieder so kalt, und auf dem Kirchhof pfiff es, daß es einem bis auf die Seele ging. Ich glaub, ich habe mir wieder was geholt, hier links unterm Schulterblatt. Aber wenn wir uns noch einen Kaffee machen und ein Glas Rum eintun, ich habe noch welchen … ja, Lehnert, ein paar Tropfen muß man doch immer haben … dann vergeht es wieder. Und ein Katzenfell ist auch gut.«

      Während sie noch so sprach, hatte sie vom Schapp her ein Messer geholt und begann den Napfkuchen in große Scheiben zu schneiden. »Iß, Lehnert; frisch schmeckt er doch am besten!« Und dabei griff sie nach dem größten Stücke. »Begräbniskuchen mag ich nicht. Aber Hochzeitskuchen, den mag ich; der schmeckt und bekommt einem alten Menschen. Und warum bekommt er einem? Weil man nicht an Tod und Sterben zu denken braucht und alles mit Appetit ißt. Und auf den Appetit kommt es an und auf den Hunger. Das heißt, wenn er nicht zu groß ist und nicht weh tut und wenn man was hat, daß er aufhört.«

      Lehnert schwieg noch immer.

      »Iß doch, Jung!«

      »Ich mag nicht, Mutter … Und wie das alles wieder aussieht, wie ‚n Bettelsack. Haben sie dir‘s denn gegeben?«

      »Gewiß. Ich werde mir doch nichts wegstibitzen und abziehn wie die Katze vom Taubenschlag.«

      »Ach, das mein ich ja nicht, Mutter. Ich meine bloß, ob sie dir‘s aus freien Stücken gegeben haben oder ob du darum gebeten hast?«

      »Versteht sich, hab ich drum gebeten. Alle haben …«

      »Opitz auch?«

      »Nu, der wohl nich. Der is ja was Vornehmes. Und Siebenhaar auch nich.«

      »Siebenhaar? War denn Siebenhaar auch da?«

      »Gewiß war er da. Der von Wang hat freilich getraut, aber Siebenhaar kam auch noch und kam justement, als alles zu Tisch ging, und war großer Jubel, als er kam, und saß gerade der Braut gegenüber und hat auch eine Rede gehalten. Und als sie die Tische wegtrugen und das Tanzen anfangen sollte, da nahm Siebenhaar Opitzen am Arm und gingen beide, wohl an die vier- oder fünfmal, um die Wiese rum. Und immer, wenn sie wieder an dem Staketzaun vorüberkamen, hab ich gehorcht.«

      »Das glaub ich. Du horchst immer. Aber der Horcher an der Wand …«

      »Diesmal nicht, Lehnert. Es war bloß Gutes, und daß es von dir war, ist sicher; ich habe deinen Namen gehört. Und Opitz, der wieder etwas fißlig war, er hielt sich aber und ließ sich nichts merken, Opitz nickte. Das hab ich mit diesen meinen Augen gesehen. Und einmal hört ich ganz deutlich, daß er sagte: ›Nu, ja, ja. Jeder ist ein Mensch, und jeder hat seine Menschlichkeiten und seine Fehler. Und ich auch.‹ Siebenhaar hat ihm also ins Gewissen geredet. Und du sollst sehn, Lehnert, es wird noch alles gut, und du kommst mit ihm auf Freundschaft und du und du. Und dann guckt er uns durch die Finger, und wir haben gute Tage.«

      »Ja, ja«, sagte Lehnert, »durch die Finger gucken, das kenn ich. Is ja das alte Lied. Na, gute Nacht, Mutter. Ich bin müde.«

      Und dabei nahm er einen Blaker und das Amerika-Buch und stieg in seine Giebelkammer hinauf. Oben aber schob er einen Stuhl an sein Bett. Und eh er das Licht auslöschte, sah er noch einmal auf den Titel des Buchs. Der lautete: »Die Neue Welt oder Wo liegt das Glück?«

      Opitz hatte wirklich, ganz wie Frau Menz erzählte, während der Brückenberger Hochzeit in entgegenkommender Weise mit sich reden lassen, und als Siebenhaar, wie durch einen glücklichen Zufall, am folgenden Tage schon einen schwarzgesiegelten Brief empfing, der ihn in die Notwendigkeit versetzte, für einen unbemittelten und brustkranken Amtsbruder samt Schwägerin und fünf in kürzesten Zwischenräumen aufeinander gefolgten Kindern (die Mutter war dann schließlich im Kindbett gestorben) eine hochgelegene, möglichst geräumige, vor allem aber möglichst billige Wohnung im Gebirge zu mieten, beschloß er, sich dieses Auftrages auf der Stelle zu entledigen und bei der Gelegenheit seinen längst beabsichtigten Besuch bei den Menzes in Wolfshau zu machen und seinen Freund Lehnert wissen zu lassen, daß alles gut stehe.

      Siebenhaar, trotz seiner siebzig, war noch ein rüstiger Steiger und hielt deshalb zu dem Satze, »was sich zu Fuß tun lasse, nicht auf kostspielige Weise zu Roß und Wagen machen«. Er griff also zu Hut und Stock, um gegen elf in Krummhübel und, nach einem Imbiß in der »Schneekoppe«, spätestens um zwölf in Wolfshau zu sein.

      Der Morgen war prachtvoll, und der Heugeruch zog vom Feld her über den Weg. Aber dieser selbst, trotzdem es die große chaussierte Straße war, war noch wenig belebt, und erst als Siebenhaar, an der Untermühle vorbei, bis an die steile, zu den ersten Häusern von Krummhübel hinaufführende Berglehne gekommen war, war auch Leben da: die Schule war aus, und die flachsköpfige Jugend, Jungen und Mädchen, mit Mappen unterm Arm und auf dem Rücken, stürmten übermütig den Abhang hinunter. Aber mit einem Male Siebenhaars ansichtig werdend, hielten sie mitten im Jagen inne und grüßten und stürmten dann erst weiter. Dem alten Herrn lachte das Herz bei dieser Begegnung, und die Freude darüber erleichterte ihm den Aufstieg bis auf die Höhe, von der aus, bis weiter hinauf zum Exnerschen Gasthause, nur noch eine kleine Strecke war.

      Aber so klein sie war, so war sie doch bestimmt, ihm eine freundliche Überraschung zu bringen: eine Feuerwehrparade. Für gewöhnlich war diese, samt nachfolgender Mannschaftsübung, eine Sonn- und Feiertagssache, die Brückenberger Hochzeit aber, die gestern alles in Atem erhalten hatte, hatte diesmal eine Verlegung gefordert, und so kam es denn, daß Siebenhaar an einem Schauspiel teilnehmen konnte, das er seit Jahr und Tag nicht mehr gehabt hatte. Die Dorfgasse hinauf, hart an einem kleinen Rinnsal entlang, standen die Spritzen und Wasserwagen, aus deren Mitte hohe Leitern aufragten, während auf dem frei gebliebenen Straßenteil die Feuerwehr selber stand, dreigliedrig aufmarschiert, prächtige Gestalten in bayerischen Helmen und mit Musik am rechten Flügel. In Front seiner Mannschaften aber stand Exner junior aus der »Schneekoppe«, der, ein Jahr jünger als Lehnert, gleich nach dem Kriege bei den Görlitzern gedient und den Schneid und Pli dieser erlesenen Truppe weggekriegt hatte. Das, und mehr noch seine gesellschaftliche Stellung als Reichster und deshalb Erster im Dorf, hatte dafür Sorge getragen, daß ihm das Feuerwehrkommando wie selbstverständlich zugefallen war. Er war gekleidet wie der Rest der Mannschaften, roter Kragen und Aufschläge zu dunkelblauem Rock, trug aber die Galons und Achselbänder des Offiziers. Die von ihm abzunehmende Revue hatte just abgeschlossen, wie kaum gesagt zu werden braucht, »zu seiner besonderen Zufriedenheit«, und eben schien er den Befehl zum Abmarsch auf das mehr talwärts gelegene Dorf Steinseiffen zu, wo dann mit Leitern und Rettungsapparaten ein Scheinfeuer bekämpft werden sollte, geben zu wollen, als er, des alten Siebenhaar, seines Freundes und Lehrers, ansichtig werdend, sich plötzlich eines andern besann und »Stillgestanden … Rückwärts richt‘t euch … Präsentiert das Gewehr« kommandierte. Wie da die Griffe klappten; alles fuhr stramm zusammen, und unter Ehrenbezeigungen wie diese passierte der Alte die für ihn freigegebene Gasse. Nun erst nahm Exner sein ursprüngliches Kommando wieder auf: »Rechtsum … Feuerwehr, marsch«, und unter Trommelschlag und Querpfeife setzte sich der lange Zug bergab, auf Steinseiffen hin, in Bewegung. Aber eine kleine Strecke nur, dann schwiegen die Trommeln und Pfeifen, und Horn und Klapptuba stimmten statt ihrer eine militärische Musik an, und Becken und Pauke fielen ein. Siebenhaar, ein alter Burschenschafter, sah ihnen nach, und eine Träne stand in seinem Auge: »Wie dank ich dir, Gott, diese Tage noch erlebt zu haben«, und erst als die Kolonne seinem Blick entschwunden war, stieg er weiter hinauf auf den Exnerschen Gasthof zur »Schneekoppe« zu, woselbst er einen Imbiß nehmen und wegen der für den Amtsbruder zu mietenden Wohnung einige Erkundigungen bei der guten alten Frau Exner, der Mutter des Feuerwehrkommandanten, einziehen wollte.

      Selbstverständlich nahm Siebenhaar, als er sein vorläufiges Ziel erreicht hatte, seinen Platz in Front der Halle, just an der Stelle, wo sonst Espes und Lieutenant Kowalski zu sitzen pflegten. Der Garten war, der frühen Stunde halber, noch leer, und nur in der Siebenhaar zunächst befindlichen Laube standen, angesichts einer über den Tisch hin ausgebreiteten Karte, drei Touristen von eleganter und beinah weltmännischer Haltung, die trotz ihres prononciert sächsischen Dialekts unschwer erkennen ließen, daß sie viel »drüben« gewesen sein mußten, in England oder vielleicht gar in Amerika. Siebenhaar, wenn er nach der Seite hin schärfer zu beobachten gewußt hätte, würde sofort auf Chemnitzer oder doch mindestens auf Meeraner Industrielle geraten haben. Aber dergleichen Beobachtungen lagen ihm fern. Er sah