rthur Schnitzler
CASANOVAS HEIMFAHRT
Casanovas Heimfahrt
In seinem dreiundfünfzigsten Lebensjahre, als Casanova längst nicht mehr von der Abenteuerlust der Jugend, sondern von der Ruhelosigkeit nahenden Alters durch die Welt gejagt wurde, fühlte er in seiner Seele das Heimweh nach seiner Vaterstadt Venedig so heftig anwachsen, daß er sie, gleich einem Vogel, der aus luftigen Höhen zum Sterben allmählich nach abwärts steigt, in eng und immer enger werdenden Kreisen zu umziehen begann. Öfter schon in den letzten zehn Jahren seiner Verbannung hatte er an den hohen Rat Gesuche gerichtet, man möge ihm die Heimkehr gestatten; doch hatten ihm früher bei der Abfassung solcher Satzschriften, in denen er Meister war, Trotz und Eigensinn, manchmal auch ein grimmiges Vergnügen an der Arbeit selbst die Feder geführt, so schien sich seit einiger Zeit in seinen fast demütig flehenden Worten ein schmerzliches Sehnen und echte Reue immer unverkennbarer auszusprechen. Er glaubte um so sicherer auf Erhörung rechnen zu dürfen, als die Sünden seiner früheren Jahre, unter denen übrigens nicht Zuchtlosigkeit, Händelsucht und Betrügereien meist lustiger Natur, sondern Freigeisterei den Venezianer Ratsherren die unverzeihlichste dünkte, allmählich in Vergessenheit zu geraten begannen und die Geschichte seiner wunderbaren Flucht aus den Bleikammern von Venedig, die er unzählige Male an regierenden Höfen, in adeligen Schlössern, an bürgerlichen Tischen und in übelberüchtigten Häusern zum besten gegeben hatte, jede andere Nachrede, die sich an seinen Namen knüpfte, zu übertönen anfing; und eben wieder, in Briefen nach Mantua, wo er sich seit zwei Monaten aufhielt, hatten hochmögende Herren dem an innerm wie an äußerm Glanz langsam verlöschenden Abenteurer Hoffnung gemacht, daß sich sein Schicksal binnen kurzem günstig entscheiden würde.
Da seine Geldmittel recht spärlich geworden waren, hatte Casanova beschlossen, in dem bescheidenen, aber anständigen Gasthof, den er schon in glücklicheren Jahren einmal bewohnt hatte, das Eintreffen der Begnadigung abzuwarten, und er vertrieb sich indes die Zeit – ungeistigerer Zerstreuungen nicht zu gedenken, auf die gänzlich zu verzichten er nicht imstande war – hauptsächlich mit Abfassung einer Streitschrift gegen den Lästerer Voltaire, durch deren Veröffentlichung er seine Stellung und sein Ansehen in Venedig gleich nach seiner Wiederkehr bei allen Gutgesinnten in unzerstörbarer Weise zu befestigen gedachte.
Eines Morgens, auf einem Spaziergang außerhalb der Stadt, während er für einen vernichtenden, gegen den gottlosen Franzosen gerichteten Satz die letzte Abrundung zu finden sich mühte, befiel ihn plötzlich eine außerordentliche, fast körperlich peinvolle Unruhe; das Leben, das er in leidiger Gewöhnung nun schon durch drei Monate führte: die Morgenwanderungen vor dem Tor ins Land hinaus, die kleinen Spielabende bei dem angeblichen Baron Perotti und dessen blatternarbiger Geliebten, die Zärtlichkeiten seiner nicht mehr ganz jungen, aber feurigen Wirtin, ja sogar die Beschäftigung mit den Werken Voltaires und die Arbeit an seiner eigenen kühnen und bisher, wie ihm dünkte, nicht übel gelungenen Erwiderung; – all dies erschien ihm, in der linden, allzu süßen Luft dieses Spätsommermorgens, gleichermaßen sinnlos und widerwärtig; er murmelte einen Fluch vor sich hin, ohne recht zu wissen, wen oder was er damit treffen wollte; und, den Griff seines Degens umklammernd, feindselige Blicke nach allen Seiten sendend, als richteten aus der Einsamkeit ringsum unsichtbare Augen sich höhnend auf ihn, wandte er plötzlich seine Schritte nach der Stadt zurück, in der Absicht, noch in derselben Stunde Anstalten für seine sofortige Abreise zu treffen. Denn er zweifelte nicht, daß er sich sofort besser befinden würde, wenn er nur erst der ersehnten Heimat wieder um einige Meilen näher gerückt wäre. Er beschleunigte seinen Gang, um sich rechtzeitig einen Platz in der Eilpost zu sichern, die vor Sonnenuntergang in der Richtung nach Osten abfuhr; – weiter hatte er kaum etwas zu tun, da er sich einen Abschiedsbesuch beim Baron Perotti wohl schenken durfte, und ihm eine halbe Stunde vollauf genügte, um seine gesamten Habseligkeiten für die Reise einzupacken. Er dachte der zwei etwas abgetragenen Gewänder, von denen er das schlechtere am Leibe trug, und der vielfach geflickten, einst fein gewesenen Wäsche, die mit ein paar Dosen, einer goldenen Kette samt Uhr und einer Anzahl von Büchern seinen ganzen Besitz ausmachten; – vergangene Tage fielen ihm ein, da er als vornehmer Mann mit allem Notwendigen und Überflüssigen reichlich ausgestattet, wohl auch mit einem Diener – der freilich meist ein Gauner war – im prächtigen Reisewagen durch die Lande fuhr; – und ohnmächtiger Zorn trieb ihm die Tränen in die Augen. Ein junges Weib, die Peitsche in der Hand, kutschierte ein Wägelchen an ihm vorbei, darin zwischen Säcken und allerlei Hausrat schnarchend ihr betrunkener Mann lag. Sie blickte Casanova, wie er verzerrten Gesichtes, Unverständliches durch die Zähne murmelnd, unter den abgeblühten Kastanienbäumen der Heerstraße langbeinig ausschreitend einherkam, zuerst neugierig spöttisch ins Gesicht, doch da sie ihren Blick zornig blitzend erwidert sah, nahmen ihre Augen einen erschrockenen, und endlich, wie sie sich im Weiterfahren nach ihm umwandte, einen wohlgefällig lüsternen Ausdruck an. Casanova, der wohl wußte, daß Grimm und Haß länger in den Farben der Jugend zu spielen vermögen als Sanftheit und Zärtlichkeit, erkannte sofort, daß es nur eines frechen Anrufs von seiner Seite bedurft hätte, um dem Wagen Halt zu gebieten und dann mit dem jungen Weib anstellen zu können, was ihm weiter beliebte; doch, obzwar diese Erkenntnis seine Laune für den Augenblick besserte, schien es ihm nicht der Mühe wert, um eines so geringen Abenteuers willen auch nur wenige Minuten zu verziehen; und so ließ er das Bauernwägelchen samt seinen Insassen im Staub und Dunst der Landstraße unangefochten weiterknarren.
Der Schatten der Bäume nahm der emporsteigenden Sonne nur wenig von ihrer sengenden Kraft, und Casanova sah sich genötigt, seinen Schritt allmählich zu mäßigen. Der Staub der Straße hatte sich so dicht auf sein Gewand und Schuhwerk gelegt, daß ihnen ihre Verbrauchtheit nicht mehr anzumerken war, und so konnte man Casanova, nach Tracht und Haltung, ohne weiteres für einen Herrn von Stande nehmen, dem es just gefallen hatte, seine Karosse einmal daheim zu lassen. Schon spannte sich der Torbogen vor ihm aus, in dessen nächster Nähe der Gasthof gelegen war, in dem er wohnte, als ihm ein ländlich schwerfälliger Wagen entgegengeholpert kam, in dem ein behäbiger, gutgekleideter, noch ziemlich junger Mann saß. Er hatte die Hände über dem Magen gekreuzt und schien eben mit blinzelnden Augen einnicken zu wollen, als sein Blick, zufällig Casanova streifend, in unerwarteter Lebhaftigkeit aufglänzte, wie zugleich seine ganze Erscheinung in eine Art von heiterm Aufruhr zu geraten schien. Er erhob sich zu rasch, sank sofort zurück, stand wieder auf, versetzte dem Kutscher einen Stoß in den Rücken, um ihn zum Halten zu veranlassen, drehte sich in dem weiterrollenden Wagen um, um Casanova nicht aus dem Gesicht zu verlieren, winkte ihm mit beiden Händen zu und rief endlich mit einer dünnen hellen Stimme dreimal dessen Namen in die Luft. Erst an der Stimme hatte Casanova den Mann erkannt, trat auf den Wagen zu, der stehengeblieben war, ergriff lächelnd die beiden sich ihm entgegenstreckenden Hände und sagte: »Ist es möglich, Olivo – Sie sind es?« – »Ja, ich bin es, Herr Casanova, Sie erkennen mich also wieder?« – »Warum sollt› ich nicht? Sie haben zwar seit Ihrem Hochzeitstag, an dem ich Sie zuletzt gesehn, an Umfang ein wenig zugenommen, – aber auch ich mag mich in den fünfzehn Jahren nicht unerheblich verändert haben, wenn auch nicht in gleicher Weise.« – »Kaum«, rief Olivo, »so gut wie gar nicht, Herr Casanova! Übrigens sind es sechzehn Jahre, vor wenigen Tagen waren es sechzehn! Und wie Sie sich wohl denken können, haben wir, gerade bei dieser Gelegenheit, ein hübsches Weilchen lang von Ihnen gesprochen, Amalia und ich…« – »Wirklich«, sagte Casanova herzlich, »Sie erinnerte sich beide noch manchmal meiner?« Olivos Augen wurden feucht. Noch immer hielt er Casanovas Hände in den seinen und drückte sie nun gerührt. »Wieviel haben wir Ihnen zu danken, Herr Casanova! Und wir sollten unsres Wohltäters jemals vergessen? Und wenn wir jemals —« – »Reden wir nicht davon«, unterbrach Casanova. »Wie befindet sich Frau Amalia? Wie ist es überhaupt zu verstehn, daß ich in diesen ganzen zwei Monaten, die ich nun in Mantua verbringe – freilich recht zurückgezogen, aber ich gehe doch viel spazieren nach alter Gewohnheit – wie kommt es, daß ich Ihnen, Olivo, daß ich Ihnen beiden nicht ein einziges Mal begegnet bin?« – »Sehr einfach, Herr Casanova! Wir wohnen ja längst nicht mehr in der Stadt, die ich übrigens niemals habe leiden können, so wenig wie Amalia sie leiden mag. Erweisen Sie mir die Ehre, Herr Casanova, steigen Sie ein, in einer Stunde sind wir bei mir zu Hause« – und da Casanova leicht abwehrte – »Sagen Sie nicht nein. Wie glücklich wird Amalia sein, Sie wiederzusehen, und wie stolz, Ihnen unsre drei Kinder zu zeigen. Ja, drei, Herr Casanova. Lauter Mädchen. Dreizehn, zehn und acht… Also noch keines in den Jahren, sich – mit Verlaub – sich – von Casanova das Köpfchen verdrehen zu lassen.« Er lachte gutmütig und machte Miene, Casanova einfach zu sich in den