Hermann Ungar
DIE VERSTÜMMELTEN
1. Kapitel
Von seinem zwanzigsten Lebensjahr an war Franz Polzer Beamter einer Bank. Täglich um dreiviertel acht Uhr morgens ging er in sein Bureau, niemals um eine Minute früher oder später. Wenn er aus der Seitengasse, in der er wohnte, hinaustrat, schlug die Uhr vom Turm dreimal.
Franz Polzer hatte in der ganzen Zeit, in der er Beamter war, weder jemals seine Stellung noch die Wohnung gewechselt. Er bezog sie, als er sein Studium aufgab und in seinen Beruf eintrat. Seine Wohnungsgeberin war Witwe, etwa so alt wie er. Als er zu ihr einzog, war sie im Trauerjahr nach ihrem Gatten.
In all den vielen Jahren seiner Beamtenzeit war Franz Polzer niemals am Vormittag auf der Straße, außer am Sonntag. Er kannte den Vormittag der Werktage nicht mehr, wo die Geschäfte geöffnet sind und einige Menschen auf den Straßen einander drängen. Er hatte nie einen Tag in der Bank gefehlt.
Die Straßen, durch die er morgens ging, boten täglich das gleiche Bild. An den Geschäften wurden die Rolläden hochgezogen. Vor den Türen standen die Kommis und warteten auf ihre Chefs. Täglich traf er die gleichen Menschen, Schulmädchen und Schuljungen, verblühte Kontoristinnen, schlechtgelaunte Männer, die in ihre Bureaus eilten. Er schritt unter ihnen, den Menschen seiner Tageszeit, eilig, achtlos und ungeachtet als einer der ihren.
Man hatte Franz Polzer vorausgesagt, daß er es bei seinen Anlagen durch Fleiß und Ausdauer zu einer leitenden Stellung in seinem Beruf bringen könne. Er hatte die ganze Zeit nicht darüber nachgedacht, daß im Grunde die Hoffnungen, die er an seine Laufbahn knüpfte, sich nicht erfüllten. Er hatte diesen Gedanken vergessen. Er vergaß ihn in all den kleinen Tätigkeiten, in die seine Zeit von Anbeginn zerlegt war. Er stand morgens auf, wusch sich, kleidete sich an, warf noch während des Frühstücks einen Blick in die Zeitung und begab sich in die Bank. Er setzte sich an seinen Tisch, auf dem Stöße von Papieren gehäuft waren, die er mit Eintragungen in den Büchern auf den Regalen ringsum zu vergleichen hatte. Jeden Bogen, den er durchgesehen hatte, bezeichnete er mit den Anfangsbuchstaben seines Namens und legte ihn in eine Mappe. Ringsum im Zimmer und in den Räumen saßen wie er an Tischen, die genauso aussahen wie seiner, viele andere Männer und Frauen. Der Geruch dieser Männer und Frauen, das Geräusch ihrer eintönigen Tätigkeit und Gespräche durchzog das ganze Haus. Franz Polzer war seiner Tätigkeit vollauf gewachsen. Sie bot keinen Anlaß zur Auszeichnung und also auch keine Gelegenheit, die Aufmerksamkeit der Höheren auf sich zu lenken.
In einem kleinen Gasthof in der Nähe der Bank aß er zu Mittag. Der Nachmittag verging gleich dem Vormittag. Nach sechs Uhr abends ordnete er Schriftstücke und Bleistifte auf seinem Tisch, versperrte seine Lade und ging nach Hause. Die Witwe brachte ihm ein einfaches Abendbrot auf sein kleines Zimmer. Er legte Schuhe, Rock und Hemdkragen ab. Nach dem Abendessen las er eine Stunde lang gründlich die Zeitung. Dann legte er sich zu Bett. Er schlief unruhig. Doch träumte er selten. Wenn er träumte, träumte er, er hätte sein Namenszeichen, das er täglich viele hundert Mal machen mußte, vergessen, seine Hand sei gelähmt, oder sein Bleistift schreibe nicht.
Am Morgen stand Polzer auf wie an allen Morgen zuvor und begann seinen Tag, der dahinging wie alle anderen Tage. Er war mürrisch und verdrossen, allein nie wurde ihm bewußt, daß es auch etwas anderes geben könne, als täglich auf seinem Platz in der Bank zu sitzen, daß man später aufstehen könne, in den Straßen spazierengehen, zwei Eier im Glas zum Frühstück in einem Café essen und mittags in einem guten Restaurant speisen.
Von Unterbrechungen dieses Einerleis hatte sich Polzer besonders eine eingeprägt. Das war der Tod seines Vaters.
Zu seinem Vater war Franz Polzer niemals in einem innigen Verhältnis gestanden. Dazu trug wohl bei, daß seine Mutter kurz nach seiner Geburt gestorben war. Vielleicht hätte sie es vermocht, die Gegensätze zu mildern. Sein Vater war ein kleiner Kaufmann in einem Landstädtchen. Polzers Kinderstube stieß an des Vaters Laden an. Der Vater war ein harter, arbeitsamer und unzugänglicher Mensch. Von frühester Jugend an mußte Franz Polzer im Laden des Vaters aushelfen, so daß ihm kaum Zeit blieb, seine Aufgaben zu machen. Trotzdem verlangte der Vater, daß der Sohn gute Zeugnisse heimbringe. Als Polzer einmal eine schlechte Zensur hatte, entzog der Vater ihm auf vier Wochen das Abendessen. Damals war Polzer siebzehn Jahre alt.
Im Hause lebte eine Schwester des Vaters, eine kinderlose Witwe, die nach dem Tode von Polzers Mutter zur Führung des Haushaltes zum Vater gezogen war. Polzer hatte die unklare Vorstellung, daß die Schwester des Vaters seine tote Mutter aus dem Hause gedrängt habe, und trat ihr vom ersten Augenblick an mit unverstellter Abneigung entgegen. Auch die Tante machte aus ihren Gefühlen gegen ihn kein Hehl. Sie nannte ihn einen schlechten Burschen, der es zu nichts in der Welt bringen würde, schalt ihn gefräßig und arbeitsscheu. Sie gab ihm so wenig zu essen, daß er gezwungen war, sich einen Nachschlüssel zu ihrem Kasten anzufertigen und nachts heimlich im Hause des Vaters zu stehlen.
Dazu kam ein Umstand, von dem nur mit allen Vorbehalten gesprochen werden kann. Polzer war damals vierzehnjährig und hatte die leicht erregbare Phantasie der Knaben, die zudem der Haß befruchtete. Von den Beziehungen zwischen Mann und Frau hatte er keine andere Vorstellung als von etwas Grauenhaftem und an und für sich Ekelerregendem. Die Vorstellung eines nackten Frauenkörpers erfüllte ihn mit Abscheu. Er war einmal in das Zimmer seiner Tante getreten, als sie sich wusch. Das Bild ihres verblühten Oberkörpers, ihres müde herabhängenden Fleisches prägte sich ihm ein und wich nicht mehr aus seinem Gedächtnis. Einst stand er nachts im dunklen Flur hinter dem Laden vor dem offenen Brotschrank, als die Tür zum Zimmer der Tante geöffnet wurde. Er drückte sich an die Wand. Aus dem hellen Rahmen der Tür trat im Nachtgewand sein Vater. Hinter ihm erschien für einen Augenblick wie ein Schatten das Bild von des Vaters Schwester. Die Tante verriegelte von innen die Tür.
Der Vater schritt knapp an ihm vorbei. Sein Hemd war offen, und Polzer glaubte trotz des Dunkels die behaarte Brust sehen zu können. Für einen Augenblick streifte ihn der Geruch frischer Semmeln, der dem Vater wohl aus dem Laden immer anhaftete. Polzer hielt den Atem an und stand noch unbeweglich, als sich die Tür seines Zimmers schon lange hinter dem Vater geschlossen hatte.
Dieses Erlebnis erweckte in Franz Polzer Eindrücke, die von den nachhaltigsten Folgen auf sein späteres Leben sein sollten. Obwohl er nur den Schatten der Tante gesehen hatte, bildete er sich fest ein, daß seine Tante in diesem Augenblick nackt gewesen sei. Von nun an verfolgten ihn Vorstellungen von wüsten Szenen, die sich nachts zwischen dem Vater und des Vaters Schwester abspielen mußten. Polzer hatte keinen Anhaltspunkt als dieses eine nächtliche Erlebnis. Und auch später ereignete sich nichts, das klar seine Meinung bestätigt hätte.
Polzer verbrachte nun seine Nächte bis gegen den Morgen schlaflos. Er horchte. Er glaubte Türen knarren zu hören und vorsichtig tastende Schritte auf den morschen Dielen des alten Hauses. Er fuhr aus leichtem Schlummer, und ihm war, als hätte er einen unterdrückten Schrei gehört. Er war von bitterem Ekel erfüllt. Dabei trieb ihn Neugierde, nachts sich vor die Tür der Tante zu schleichen. Nie konnte er etwas anderes als ihren Atem hören.
Der Vater schlug Franz Polzer oft, und die Tante hielt ihn fest. Wenn Polzer nachts von ihm geträumt hatte, im Traume grenzenlos über seinen Anblick erschrocken, über sein schmutziges Kleid, sein rotes, stumpfes Traumgesicht, hinter dem die Tante stand, daß er ihn quäle und schlage, wollte er am Tage, wenn er ihm begegnen mußte, wieder von ihm geschlagen sein. Ihm war so, als müßte er alles wahr machen, auch seinen Haß gegen den Vater, dadurch, daß dieser wirklich mit seinen schweren Fäusten ihn in den Rücken schlage. Dabei fühlte er, daß er erwachsen sei, daran dachte er, aber schwächer, eben nur viel schwächer als jener.
Bei Leuten, die im ersten Stockwerk des Hauses wohnten, diente eine Magd, die Milka hieß. Sie trug eine lose Bluse und kam oft in den Laden. Einmal sah Polzer, wie der Vater Milka an die Brust griff. An diesem Abend ließ Polzer einen Teller zu Boden fallen. Der Vater schlug ihn, und die Tante krallte die Finger in sein mageres Fleisch. Er weinte nicht, und darum schlug ihn der Vater wilder, und Franz Polzer wollte es so.
Wenn er konnte, entlief er aus dem Laden und trieb sich in den Gassen des Städtchens umher, bloß um nicht zu Hause sein zu müssen. Oft auch verbrachte er den ganzen Tag im Hause eines reichen Mannes mit Namen Fanta, dessen Sohn mit ihm das Gymnasium besuchte. Mit Karl Fanta verband