wagte nicht, ihr zu widersprechen. Sie traten ein und setzten sich an einen kleinen Fenstertisch. Es war kein Bekannter im Lokal.
Polzer schämte sich der Schwäche, die ihn vor Frau Porges erniedrigt hatte. Sie sah ihn an. Er begriff, daß er etwas sagen müsse, wie beschämend auch dies alles sei. Er fühlte, daß sie es erwarte.
»Frau Porges,« begann er, »Sie haben das Recht, eine Erklärung von mir zu verlangen. Der Gedanke, daß Sie eine Dame sind, ich gebe es zu, ist einen Augenblick lang bei mir in den Hintergrund getreten, woran Ihre Aufforderung vielleicht nicht ganz unschuldig gewesen sein mag, Frau Porges. Ich glaube fast, daß ich es niemals von selbst getan hätte.«
»Sie sind sehr rücksichtsvoll,« sagte Frau Porges. »Es freut mich, daß Sie mich so als Dame behandeln, trotzdem ich nur eine einfache Frau ohne Mädchen bin.«
Ihm schien, daß sie ihn nicht ganz verstanden habe. Das Unziemliche seines sonstigen Betragens gegen Frau Porges fiel ihm ein. Er dachte einen Augenblick daran, sie von nun an als gnädige Frau anzusprechen. Doch ließ er diesen Gedanken fallen, weil er nicht wußte, wie er eine solche Änderung ihr begreiflich machen sollte.
Im dunklen Treppenhaus überfiel Frau Porges Angst, und sie drängte sich an Polzer. Er hatte kein Zündholz bei sich und beruhigte sie mit einigen Worten. Beim Abschied deutete ihm Frau Porges an, wie sehr sie sich auf den kommenden Sonntag freue. Polzer vermied es, vorläufig darauf zu erwidern.
3. Kapitel
Über Franz Polzers Bett hing das Bild seines Schutzheiligen. Es war nicht viel größer als eine Ansichtskarte, weiß und rechteckig. In der Mitte stand der Heilige, bunt bemalt. Das Bild war gerahmt und unter Glas.
Polzer hatte das Bild noch von seiner Mutter erhalten. Einmal war der Heilige im Zimmer der Mutter gehangen, zwischen anderen farbigen Heiligenbildern. Polzers Mutter war eine fromme Frau gewesen. Täglich hatte sie Öl in die Lampe gegossen, die zu Füßen des Heilands auf der dunklen Treppe hing und Tag und Nacht flackernd brannte. Sie nahm ihn auch in die Kirche mit. Franz Polzer erinnerte sich seiner ersten Kirchenbesuche gut. Er kniete neben der Mutter unter den großen dunklen Bildern, von angstvollen Vorstellungen bewegt. Er fürchtete die blutenden Gestalten der Märtyrer und vermochte doch den Blick nicht von ihnen zu wenden. Sie waren halbbekleidet, ihr Fleisch war rot bemalt und ihr Antlitz leidensverzerrt nach oben gewendet. Polzer verließ die Kirche bedrückt von Vorstellungen von Sünden und Martern und geängstet von dem Gedanken, das Heilige verletzt zu haben. Er stellte seine regelmäßigen Kirchenbesuche erst ein, als er mit Karl Fanta zusammenzog. Von nun an besuchte er die Kirche nur selten und heimlich.
Auch als er mit Karl wohnte, hing das Bild seines Schutzheiligen an der Wand über dem Bett. Er stand zu dem Bild des heiligen Franziskus in einem besonderen Verhältnis. Nie hätte er eine Nacht ohne den Schutz des über seinem Bett hängenden Bildes geschlafen und selbst auf kleine Reisen nahm er es mit. Er hatte das Gefühl, daß mit dem Schicksal dieses Bildes geheimnisvoll auch sein Schicksal verknüpft sei. Trotzdem hatte er niemals die Vorstellung eines persönlichen, ihn schirmenden Heiligen. Er dachte an das Bild und nie an den Patron.
Das Bild hing in den Nächten über dem Bett. Polzer hatte nie einen gesunden Schlaf. Des Nachts lag er wach und hörte schnarrende Geräusche. Ihm war, als näherten sich schlürfende Schritte, und er ängstigte sich. Abends las er, trotzdem es seine Erregung verstärkte, die Mordchronik der Zeitung und die Prozeßberichte. Er schnitt diese Berichte aus, versah sie mit dem Datum und ordnete sie in seinem Schreibtisch.
Oft auch las er abends in Büchern, die Frau Porges einer Bibliothek entlehnte. Sie enthielten die Darstellungen von Verbrechen und den Abenteuern der Detektive. Er las dies alles aus dem unbestimmten Verlangen, sich die Berechtigung seiner nächtlichen Angst zu beweisen. Es war kein Zweifel, daß Gefahr vorhanden sei. Ein Gedanke beruhigte ihn in solchen Nächten: der Gedanke an das Bild über seinem Bett. Er dachte nicht darüber nach, ob es imstande sein könne, ihn zu schützen. Ihn beruhigte seine Gegenwart. Als bestätigte sie ihm, daß alles in Ordnung, alles an seinem Platz sei, auch in der unkontrollierbaren Dunkelheit sich nichts geändert habe und daß er selbst nichts getan habe, das die feste Ordnung der Regelmäßigkeit durchbrechen könne und so dem Außergewöhnlichen die Tür öffnen.
In der Zeit, als Polzer mit Karl wohnte, brachte ihm das Bild Karls Spott. Karl nannte ihn abergläubisch. Er dachte nicht daran, daß Polzers Verhältnis zu dem Bild ein Verhältnis zur Ordnung oder daß Aberglaube eben die ängstliche Achtsamkeit auf Ordnung und Regel und Furcht vor der Gefahr des Außergewöhnlichen sein könne. Polzer hatte jahrzehntelang einen Federhalter benutzt, den er sich noch als Schüler gekauft hatte. Es war ein schwarzer, zusammenlegbarer, einfacher Federhalter. Er hätte als Schüler nicht gewagt, seine Schularbeiten mit einem anderen Federstiel niederzuschreiben. Noch als Student und als Beamter schrieb er mit diesem Halter, den er stets bei sich trug. Plötzlich war der schwarze Federhalter verschwunden. Das geschah in der Zeit der ersten Annäherungsversuche der Witwe, und Polzer zweifelte nicht daran, daß Frau Porges den Federhalter beiseite geschafft habe, weil sie wußte, wie sehr ihn das Verschwinden dieses alten Federstiels in Unruhe versetzen mußte.
Polzer brachte es nie über sich, sich von Dingen, die ihm gehörten, freiwillig zu trennen. In seinen Kästen und Schuhen häuften sich alte Papiere, Zeitungen, unbrauchbar gewordene Kleidungsstücke. Der schreckliche Gedanke an Hausdiebstähle verließ ihn nie. Er fürchtete ständig, es könnten Dinge aus seinem Besitz verloren gehen, ohne daß er es bemerke. Polzer fand kein Mittel, die ständige Unruhe, in die dieser quälende Gedanke ihn versetzte, zu überwinden. Alle seine Sinne mußten ununterbrochen auf der Lauer sein, denn die Gefahr bestand. Keine Veränderung durfte ihm entgehen. Allwöchentlich zählte er nach, was er besaß, Bücher, Zeitungen, alte Papiere, Wäsche, Kleider. Er wollte die Gewißheit, daß sich nichts an seinem Besitzstand geändert habe.
Polzer wußte, daß er keine Schätze besitze. Er war nicht im Zweifel, daß seine Habseligkeiten, seine vielfach geflickte Wäsche, die übertragenen Anzüge keinen großen Wert darstellten und kaum jemanden verlocken könnten, sich sie anzueignen. Trotzdem wurde er diese Furcht nicht los. Sie kam über ihn, sobald es dunkel war. Die Nacht barg alle Gefahren. Er war wehrlos und traute der Einsamkeit nicht. Etwas hielt sich verborgen, die Verschwörung atmete aus dem Dunkel, Polzer vermochte nichts gegen sie. Der Anschlag gegen ihn knarrte, atmete und lauerte an der Tür. Durch eine Bresche konnte er hereinbrechen, wenn der erste Stein gelöst war, daß er Fuß fassen konnte. Polzers Habseligkeiten waren gezählt, die Jalousienschnüre lagen im rechten Winkel, die Ordnung war noch nicht unterbrochen. Das Bild hing als Zeuge über dem Bett.
Franz Polzer sehnte sich nach einem Mitbewohner seines Zimmers, dessen greifbare Gegenwart das Geräusch der feindlichen Einsamkeit schweigen gemacht hätte. Er sehnte sich danach, neben einem Menschen zu schlafen. Er hörte das Bett der Frau Porges unter der Last ihres Körpers knarren und nahm sich vor, sie am Morgen zu bitten, daß sie ihn in ihr Zimmer aufnehme. Er wollte einen Paravent kaufen, der seine Bettstelle von der ihren trennen sollte. Auch er wollte nachts Erholung und Ruhe finden wie sie. Am Morgen verwarf er diese Gedanken. Ihr vertraulicher Blick erschreckte ihn. Er fürchtete, sie würde die wahren Gründe seiner Bitte nicht verstehen. Es schien ihm nicht unwahrscheinlich, daß sie den Anlaß wahrnehmen würde, auf ihn zuzutreten und ihn zu umarmen, wozu sie immer bereit schien. Diese Möglichkeit nahm ihm den Mut. Er richtete den Oberkörper starr auf und streckte ihn, wenn die Witwe eintrat. Zugleich ließ er die Arme schlaff herabhängen. Den Kopf schob er weit zurück. Das war seine wortlose Abwehr.
Auf Polzers Schreibtisch stand eine Schachtel mit Briefpapier. Er war mit niemandem im Briefverkehr und es geschah selten, daß er einen Brief zu schreiben hatte. Aber er hielt es für nötig, auch auf diese Möglichkeit immer gefaßt und vorbereitet zu sein. Nach durchwachten Nächten war es ihm am Morgen oft ein Bedürfnis, die Briefbogen nachzuzählen, und sich in der Gewißheit, daß kein Bogen fehle, zu beruhigen.
Einmal, als er gerade beim Zählen der Bogen war, trat Frau Porges ein. Sie brachte das Frühstück. Sie sah Polzer wortlos an. Ihm war, als hätte sie ihn bei einer schmählichen Handlungsweise ertappt. Zugleich verstimmte ihn, daß sie nun bei ihm eintrat, ohne zu pochen.
»Sie haben