Ich bin Arzt. Ich habe Sie im Wasser gehalten und hierher getragen.«
Sie erglühte.
»Mein Herr, ich weiß, daß ich im Begriff gestanden habe, eine große Sünde zu begehen«, sagte sie, »aber mein Mut ist dahin.« – »Fassen Sie Vertrauen! Gott ist gut; er läßt keinen Menschen verlorengehen.« – »Ja, Gott ist gut; aber die Menschen, die Menschen …!« – »Haben Sie bereits so schlimme Erfahrungen gemacht?« – »So schlimme, daß es nur noch den Tod gab.« – »Gab es keine Hilfe, keine Rettung?« – »Keine«, erwiderte sie dumpf. – »Mein Kind, das ist ja eine wirkliche Verzweiflung, zu der Sie jedenfalls das Recht nicht haben.« – »Nicht? Oh, wenn Sie wüßten!« – »So teilen Sie mir Ihren Kummer mit. Ich zweifle nicht daß ich imstande sein werde, Ihnen, wenn nicht Hilfe, so doch Rat zu bringen.« – »Unmöglich, mein Herr!« – »Warum unmöglich? Sie dürfen an meiner Bereitwilligkeit, Ihnen zu nützen, nicht zweifeln.« – »Ich zweifle nicht; ich sehe es Ihnen an, daß es Ihr Ernst ist, daß Sie ein Herz besitzen, das mild von einer Unglücklichen denkt; aber ich vermag Ihnen nicht zu erzählen.« – »Warum nicht?«
Sie errötete abermals tief und schwieg.
»Stehen Sie allein?« fragte er, um ihr die Mitteilung zu erleichtern. »Sie haben doch noch Eltern und Geschwister?« – »Nur den Vater und einen Bruder. Jener ist eigentlich Fischer, aber, ach, es ist lange her, seit er seinen Beruf nicht mehr betreibt« – »So hat er einen anderen Beruf erwählt?«
Sie schüttelte den Kopf und erwiderte nach einer Pause.
»Einen anderen? O nein, leider nein! Ach, mein Herr, wie bin ich doch so unglücklich!«
Sie hüllte ihr Gesicht in die Decke des Bettes und weinte wiederum. Er bat sie, aufrichtig zu sein, und seinem freundlichen Zureden gelang es endlich, sie zu beruhigen und zur Mitteilung zu bewegen.
»Mein Vater war ein so guter und nüchterner Mann«, sagte sie. »Ja, das war er – bis meine Mutter starb. Er hatte sie liebgehabt; er grämte sich und suchte Trost im Branntwein. Ich war ein Mädchen von neun Jahren, und mein Bruder war nur drei Jahre älter als ich. Der Vater gewann den bösen Trunk immer lieber, denn er kam in schlimme Gesellschaft. Er verkehrte bald mit Männern, die er früher verachtet hatte. Er verlernte die Arbeit, er verkaufte nach und nach alles, was er hatte, und wir begannen zu hungern.«
Sie hielt inne. Es wurde ihr sichtlich schwer, diese Geständnisse zu machen. Endlich fuhr sie fort:
»Mein Bruder war ein starker Knabe; er wurde Schmied. Die Schmiede sind sehr oft rohe und gewalttätige Leute; er wurde es auch, aber er hat mich immer liebbehalten, obgleich er bald in die Fußtapfen des Vaters trat, seine lohnende Arbeit aufgab und des Abends mit dem Vater ausging. Wenn sie dann des Nachts nach Hause kamen, so waren sie oft reich, oft auch arm, und ich durfte niemals fragen, woher sie die Dinge brachten, von deren heimlichem Verkauf sie lebten.« – »Armes Kind!« sagte Sternau.
Sie nickte traurig und fuhr fort:
»Einst kehrten sie nicht zurück, und ich wurde des anderen Tages zur Mairie zitiert. Dort erfuhr ich, daß beide gefangen seien: Man hatte sie bei einem Einbruch ertappt. Oh, das war ein trauriger Tag! Ich habe damals viel geweint, aber ich ließ den Mut nicht sinken. Während beide viele Monate lang im Gefängnis saßen, arbeitete ich bei einer Näherin; ich hatte keine Not und legte mir etwas Geld zurück, damit die Meinen nicht hungern sollten, wenn sie wieder frei würden. Sie kamen; sie nahmen mein Erspartes und vertranken es. Ich mußte zu ihnen ziehen, das alte Leben begann von neuem, und obwohl sie wiederholt bestraft wurden, besserten sie sich nicht. Nun war ich groß geworden, und der Vater sagte, daß ich hübsch sei, und meinte, jetzt sei die Zeit gekommen, in der er sich nicht mehr zu plagen und zu sorgen brauche. Darauf brachte er junge Männer zu mir, Männer, vor denen mir graute. Ich widerstand lange, aber ich erhielt Schläge. Ich wollte gehen, fliehen, aber ich wurde eingeschlossen. Endlich zwang man mich eines Abends, starken Wein zu trinken; ich wurde sehr betrunken, alles andere können Sie sich denken.«
Sie hielt abermals inne. Die Erinnerung an jene Zeit entlockte ihr ein Meer von Tränen.
Sie hatte in kurzen Worten eine Biographie gegeben, wie sie in Paris auf Tausende junger Mädchen paßte, denen die Ehrlosigkeit und Pflichtvergessenheit der Eltern zum Fluch wird.
»Haben Sie nie einen Schritt getan, um sich von der Behörde Hilfe zu verschaffen?« fragte Sternau. – »Nein«, antwortete sie. »Es waren ja mein Vater und mein Bruder.« – »Und nun? Was gedenken Sie nun zu tun, mein Kind?« – »Oh«, klagte sie, »ich weiß, daß ich dennoch in die Seine gehen muß.« – »Nein, das sollen Sie nicht. Ich werde dafür sorgen, daß Sie es nicht nötig haben.«
Ihr trauriges Angesicht klärte sich auf, und mit einem hoffnungsvollen Leuchten ihrer Augen fragte sie:
»Mein Gott, ist dies Wahrheit? Sie wollen mir wirklich helfen, ohne daß es dem Vater und dem Bruder Schaden bringt?« – »Ja, ich werde helfen, und, wenn es zu umgehen ist, jeden Schaden vermeiden.« – »Oh, Monsieur, wie dankbar wollte ich Ihnen sein«, rief sie entzückt »Man hat mich zu den Verachteten gezählt, aber ich bin nicht schuld daran. Ich will ja gern arbeiten; ich will gern alles tun, um Ihre Zufriedenheit zu erlangen. Glauben Sie es mir?«
– »Ich glaube es Ihnen«, erwiderte er. »Wo wohnen Sie?« – »Wir wohnen in einem Hinterhaus der Rue St. Cloy.« – »Das ist allerdings ein schlimmes Quartier. Zu einer in dieser Winkelstraße liegenden Hinterwohnung kann man kein Vertrauen haben.«
Da öffnete sich die Tür, und die Wirtin trat ein.
»Hier ist der Fliedertee«, sagte sie. »Ah, Sie sind wieder zu sich gekommen, mein Kind?« – »Ja«, antwortete das Mädchen. »Oh, Madame, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie sich meiner so freundlich angenommen haben!« – »Ich tat es gern. Sie haben nur diesem Herrn zu danken. Trinken Sie schnell den Tee, damit die Schmerzen aufhören. Ah, da kommt ja unser braver Gardon wieder.«
Wirklich trat der Matrose wieder ein. Hinter ihm befanden sich zwei Männer, die mit hereinwollten, von ihm aber bedeutet wurden, zurückzubleiben.
»Hier, mein Herr, sind Ihre Sachen«, sagte er. – »Ah, sie sind nicht verlorengegangen?« fragte Sternau. – »Nein, ein Polizist hatte sie an sich genommen.« – »Und er gab sie Ihnen ohne Weigerung?« – »Wie Sie sehen. Er kannte mich. Ja, Monsieur, der Matrose Gardon ist hier als ein ehrlicher Mann bekannt, man darf ihm schon etwas anvertrauen.« – »Wie fanden Sie es an der Brücke?« – »Es standen viele Menschen da, die auf die Rückkehr unseres Bootes warteten. Zwei von ihnen sind mitgekommen.« – »Was wollen sie?« – »Sie wollen diese Demoiselle sehen, sie vermuten, daß es eine Anverwandte von ihnen sei.« – »Wie heißen sie?« fragte das Mädchen. – »Sie nannten sich Mason, Vater und Sohn.« – »Sie sind es«, sagte sie. »Mein Name ist Annette Mason.« – »Wünschen Sie, sie zu sehen?« fragte Sternau. – »Darf ich, mein Herr?« – »Ja. Wir werden uns einstweilen entfernen.« – »Die anderen mögen gehen, Sie aber bitte ich zu bleiben, Monsieur. Ich fürchte mich vor dem Vater!« – »Gut«, sagte Sternau zur Mutter Merveille. »Lassen Sie die beiden eintreten.«
Dieselbe entfernte sich mit dem Matrosen, und die beiden Masons traten ein.
Der Vater hatte ein wüstes, versoffenes Aussehen; es war gar nicht zu verkennen, daß er der Sünde und dem Verbrechen ohne Rettung verfallen sei. Der Sohn war eine kräftige, robuste Gestalt und ganz sicher ein ungeschlachter, gewalttätiger und gewissenloser Mensch, aber in seinem Auge glänzte doch so etwas wie ein Freudenschimmer, als er seine Schwester erblickte. Der Vater eilte sofort auf sie zu.
»Endlich habe ich dich!« rief er. »Heraus aus dem Bett und folge mir!« – »Ich bin krank, Vater«, entgegnete sie bittend. – »Krank?« fragte er. »Du bist ja wach, du kannst ja sprechen. Heraus und fort mit dir!«
Da trat ihr Bruder zu ihr heran und fragte:
»Du bist wirklich in die Seine gesprungen, wie du uns drohtest, Annette?« – »Ja«, gestand sie leise. – »Welch eine Dummheit!« – »Dummheit?« rief der Vater. »Nein, eine Schlechtigkeit war es! Sie wollte uns blamieren, sie wollte uns um das Geld bringen, was sie zu verdienen hat. Sie mag uns jetzt folgen, und