sah ihn an. Tränen fielen ihr über das entstellte Gesicht herunter. Dann wandte sie sich schweigend ab und ging hinter dem Vater her, zum Hag hinauf, vor dessen geschlossenem Tor mit trägem Schellengerassel acht verstaubte Kühe standen, die geduldig auf Einlaß in ihre Heimat warteten.
Der graue Reiter, barhäuptig, jagte über die Straße hinaus. Geschrei und Flüche waren hinter ihm her. Und Steine flogen, Einer traf ihn an der linken Schulter, daß der Arm aus dem Gelenk gestoßen wurde und schlaff herunterhing.
Es schattete schon im Walde. Doch auf den offenen Wiesen der Strub, da lag die Sonne wieder, goldschön in der leuchtenden Reinheit des Abends.
Nicht weit vor den ersten Häusern von Berchtesgaden jagte Lampert an dem träge kriechenden Zug des Marimpfel vorbei. Die Faust des berittenen Spießknechtes blutete nimmer, seit sie in die Leinenbinde des heiligen Zeno gewickelt war. Auch die vier Leichenträger hatten die verprügelten Köpf e mit Flachs umwunden, der zu Reichenhall gewachsen. Und den flüssigen Stärkungen des gütigen Heiligen hatten sie so reichlich zugesprochen, daß Niederlage und Ärger für sie verwandelt waren in einem schmerzlosen Dusel.
Lampert fühlte beim Anblick dieses Zuges keine Erschütterung irgendwelcher Art. Im jagenden Vorüberreiten stieß er ein heiseres Lachen vor sich hin. Und sprach dabei zwei alte Worte: »Fiat justitia!«
Als er auf dem Marktplatz an verwundert guckenden Leuten vorbeigaloppierte, klang von einem Erker her der Schrei einer aus Sorge erlösten und doch von Angst bedrückten Mutter. Und es klirrte ein niederfallendes Schubfenster.
Im Hausflur trat Herr Someiner dem Sohn entgegen.
»Viel Zeitung, Vater!« krächzte Lampert unter schneidenderb Lachen. »Der Käser auf dem Hängmoos ist niedergebronnen. Der Sohn des Richtmanns ist erwürgt. Vier Ramsauer sind erschlagen, das Dorf ist in Aufruhr. Wo deine siegelwidrigen Kühe und deine rechtsgetreuen Ochsen sind, das weiß ich nicht. Deine Pfändleut bringen zwei tote Buben.«
Amtmann Someiner war ein großer, stattlicher Herr. Nun plötzlich erschien er kleiner um einen halben Kopf. Er hatte weit aufgerissene Augen und sagte mit schwerer Zunge: »Recht muß Recht sein!«
»Ein halbes Wort, Vater! Vergiß nicht die andre Hälfte: Pereat mundus!«
Etwas Weißes kam sehr schnell aus dem dunklen Treppenschacht heraus.
»Jesus!«
Dieser Schrei, den Frau Marianne emporschickte zum mildesten aller Menschen, hatte nichts mit den Hängmooser Ochsen, auch nicht das geringste mit den fünf Ramsauern und den zwei Gadnischen Hofleuten zu schaffen, die das Atmen verlernt hatten. Dieser Schrei war nur einer Mutter Sorge um ihren Sohn.
Als sie den vor Erschöpfung Wankenden hinaufführte zu seinem Stübchen, sagte er ruhig mit seiner tonlosen Stimme: »Es ist nichts, Mutter! Nichts! Mußt nicht Angst haben. Aber den Medikus brauch ich. Mit meinem linken Arm ist, ich weiß nicht was. Nichts, Mutter, nichts! Bloß heben kann ich ihn nimmer.«
Frau Marianne rief mit schriller Stimme nach ihrem Mann. Der kam nicht. Weil er schon auf dem Wege zu seinem gnädigsten Fürsten war, ohne Stock und Hut. Hinter sich vernahm er Hufschlag und Geschrei von Menschen. Er sah sich nicht um. Was man nicht sieht, ist nicht vorhanden.
Im inneren Stiftshofe, zwischen blauem Schatten und goldroter Abendsonne, waren die Domizellaren mit Herrn Jettenrösch und ein paar andern, noch jungen Chorherren beim Reifenspiel, an dem sich auch drei schlanke, vergnügte Fräulein beteiligten, die das Haar mit grünen Schleiern umwunden trugen.
Der Amtman keuchte die zwei Treppen zum Fürstenzimmer hinauf und befahl dem Diener: »Tu mich melden beim Herren! Sag, es wär in causa boum hengismosianorum.«
Ein großer Raum, vornehm und doch nicht prunkhaft. Fürst Peter Pienzenauer, im weißen Ordenskleide, saß am offenen Fenster, durch das man eine von Gold und Schatten durchwürfelte Ferne, das Haupt des Watzmann mit dem weißen Schneebart und die scharfen Zinken der Watzmannkinder sah. Eine breite Woge der Abendsonne fiel durch das Fenster herein, überleuchtete den Prälaten und warf den Schatten des in tiefer Verbeugung stehenden Amtmanns als schwarzen Kloß auf die rotleuchtende Wand.
»Nun, lieber Ruppert? Was wollen die Ochsen schon wieder?«
»Gnädigster Herr! Da hat sich jetzt eine schieche Sache ausgesponnen. Genaues weiß ich noch nicht. Aber soviel mein Sohn mir da kundgetan —«
Während Herr Someiner weiterredete, zog der Fürst die Brauen immer strenger zusammen. Und der Amtmann hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Vogt mit dem Spießknecht Marimpfel erschien.
»Das ist ein übel Ding!« sagte Herr Pienzenauer. »So gehen Eigenmächtigkeiten der Unbesonnenen immer aus. Warum hast du diese einfache Sache nicht so geordnet, Ruppert, wie ich es wünschte? Ich habe dir doch deutlich gesagt, wie es gehalten werden sollte?«
Der Amtmann stotterte: »Aber gnädigster Herr —«
»Schweig!« Der Propst winkte. »Erst soll der andre reden. Wie war’s?«
Marimpfel beschönigte nichts. Das hatte er nicht nötig. Wie der Älteste der Ramsauer, so blieb auch er als gewissenhafter Mensch und verläßlicher Hofmann streng bei der Wahrheit, die er gesehen hatte und beschwören konnte. Und doch bekam die Begebenheit des Tages nun schon ein drittes Gesicht.
Die Pfändung war nach Marimpfels Meinung laut Befehl in strengster Ordnung vollzogen worden. Der Käser geriet in Brand, weil die dürren Schindeln auf den Herd fielen, auf dem noch die siegelwidrigen Kohlen glühten. Ein Hirte, der sich unbotmäßig aufspielte, bekam die verdiente Dachtel. »Ich brauch auch nit verschweigen, Herr, daß ich mit der sauberen Hirtin ein lützel scherzen hätt mögen. Das ist doch Hofmanns recht. Nit, Herr?«
Auf diese Zwischenfrage gab Fürst Peter weder ein Ja noch ein Nein zur Antwort.
Bei heiterem ›Scherzen mit der Hirtin‹ mußte Marimpfel ›so eine breshafte Krot‹, die ihm grob an den Hals gesprungen, von sich abbeuteln. »Der Lausbub hat gleich das Messer gezogen, und ich hab mich wehren müssen meines Leibs.« Und in der Ramsau hielt der Runotter, hinter ihm an die zweihundert Leute, meuterisch die rechtlichen Pfänder auf.
»Der Runotter?« fragte der Propst erstaunt.
»Der, Herr, ja! Arg weit hat er den Brotladen aufgerissen.«
Weil Fürst Peter den Kopf schüttelte, erschien es dem Amtmann als Pflicht, von der Sehnsucht des Runotter nach einem Trunk aus dem eidgenössischen Freiheitskrug zu sprechen. Doch barmherzig verschwieg er dabei des Richtmanns freigeistiges Wort vom Menschen, der sein muß wie er ist.
Und Marimpfel erzählte: »Ist auf mich los und hat mir den Gaul scheu gemacht mit seinem Stecken, daß ich ihn fortschieben hab müssen. Und da haben die Leut ein Schreien angehoben und haben mich einen Lumpenkerl geheißen. Noch allweil hab ich Ruh gehalten. Erst wie der Richtmann auf den Herren geschumpfen hat, da hab ich pflichtmäßig einen Griff nach dem Eisen getan. Hab’s aber nit gezogen, weil ich doch weiß: Der Herr ist lieber gütig als streng. Aber da verschimpft der Richtmann die Pfändung als ein Unrecht, bietet mir, ich soll die Küh vom Strick tun, und der Albmeister weiset mir einen papierenen Wisch —«
»Ruppert?« fragte Herr Pienzenauer.
»Das kann nur der Ochsenbrief gewesen sein!« beteuerte der Amtmann. »Ein ander Siegelrecht ist in matricula sigillorum nicht registriert. Kann sein, die Bauren haben den Hofmann verdutzen wollen.«
»Ja, Herr«, nickte Marimpfel, »so ist mir’s fürgekommen. Und da hab ich —« In aller Aufrichtigkeit wiederholte er jene symbolische Geste. »Ist schon wahr, ich bin ein lützel zornig gewesen. Auf meinen Fürsten kann ich nit schimpfen hören. Also, ich sag noch: Mir ist Recht, was mein Herr gebietet. Und jählings springt mir der Albmeister an den Bauch. Ich wehr mich mit dem Ellbogen. Der Fußknecht, der jetzt im Hof liegt und nimmer reden kann, will mir helfen und fahrt mit dem Spießholz dazwischen. Da droht der Albmeister mit dem deutschen König. Und weil er geblutet hat, ist dem alten Manndl letzt wor den. Und da schreien die Ramsauer Mordio. Und her über uns mit Zaunhölzern und Messern. Und