Karl May

Mein Leben und Streben


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läßt seine Romanfiguren zugrunde gehen, als daß der ergrimmte Knabe hingeht, um das Böse, das nicht geschah, obgleich es der Wahrheit nach geschehen mußte, nun seinerseits aus dem Buche in das Leben zu übertragen. Hier liegt die Achse, um die sich unsere Jugend- und Volksliteratur zu drehen hat. Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.

      Nachdem wir zu Miete gezogen waren, wohnten wir am Marktplatze, auf dessen Mitte die Kirche stand. Dieser Platz war der Lieblingsspielplatz der Kinder. Gegen Abend versammelten sich die älteren Schulknaben unter dem Kirchentore zum Geschichtenerzählen. Das war eine höchst exklusive Gesellschaft. Es durfte nicht jeder hin. Kam einer, den man nicht wollte, so machte man keinen »Summs«; der wurde fortgeprügelt und kehrte gewiß nicht wieder. Ich aber kam nicht, und ich bat auch nicht, sondern ich wurde geholt, obgleich ich erst fünf Jahre alt war, die Andern aber dreizehn und vierzehn Jahre. Welch eine Ehre! So etwas war noch niemals dagewesen! Das hatte ich der Großmutter und ihren Erzählungen zu verdanken! Zunächst verhielt ich mich still und machte den Zuhörer, bis ich alle Erzählungen kannte, die hier im Schwange waren. Man nahm mir das nicht übel, denn ich hatte erst vor Kurzem sehen gelernt, hielt die Augen noch halb verbunden und wurde von Allen geschont. Dann aber, als das vorüber war, wurde ich herangezogen. Alle Tage ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere Erzählung. Das war viel, sehr viel verlangt; aber ich leistete es, und zwar mit Vergnügen. Großmutter arbeitete mit. Was ich in der Dämmerstunde zu erzählen hatte, das arbeiteten wir am frühen Morgen, noch ehe wir unsere Morgensuppe aßen, durch. Dann war ich, wenn ich an das Kirchtor kam, wohlvorbereitet. Unser schönes Buch »Der Hakawati« gab Stoff für lange Zeit. Hierzu kam, daß dieser Stoff sich mit der Zeit ganz außerordentlich vermehrte, doch freilich nicht im Buche, sondern in mir. Das war die sehr einfache und sehr natürliche Folge davon, daß ich nach meinem Sehendwerden die seelische Welt, die durch den Hakawati in mir entstanden war, nun in die sichtbare Welt der Farben, Formen, Körper und Flächen zu übersetzen hatte. Dadurch entstanden unzählige Variationen und Vervielfältigungen, die ich nur dadurch, daß ich sie erzählte, in feste Gestalt und Form zu bringen vermochte.

      Inzwischen hatte Vater es erreicht, daß ich in die Schule gehen durfte. Das durfte man erst vom sechsten Lebensjahr an; aber meine Mutter war als Hebamme sehr oft bei dem Herrn Pastor, der ihr diesen Wunsch als Lokalschulinspektor sehr gern erfüllte, und mit dem Herrn Elementarlehrer Schulze kam Vater wöchentlich zweimal zusammen, um Skat oder Schafkopf zu spielen, und darum hielt es nicht schwer, die Erlaubnis auch von dieser Seite zu erlangen. Ich lernte sehr schnell lesen und schreiben, denn Vater und Großmutter halfen dabei, und dann, als ich das konnte, glaubte Vater die Zeit gekommen, das, was er mit mir vorhatte, zu beginnen. Es sollte sich nämlich an mir erfüllen, was sich an ihm nicht erfüllt hatte. Er hatte im Forsthause einen Blick in bessere und menschlichere Verhältnisse tun dürfen. Und er mußte immer daran denken, daß es unter unsern Vorfahren bedeutende Männer gegeben hatte, von denen wir, ihre Nachkommen, sagen mußten, daß wir ihrer nicht würdig seien. Er hatte das werden gewollt, war aber von den Verhältnissen gewaltsam niedergehalten worden. Das kränkte und das ärgerte ihn. Für sich hatte er mit diesen Verhältnissen abgeschlossen. Er mußte bleiben, was er war, ein armer, ungebildeter Professionist. Aber er übertrug seine Wünsche und Hoffnungen und alles Andere nun auf mich. Und er nahm sich vor, alles Mögliche zu tun und nichts zu versäumen, aus mir den Mann zu machen, welcher zu werden ihm versagt gewesen war. Das kann man gewiß nur löblich von ihm nennen. Nur kam es darauf an, welchen Weg und welche Weise er meiner Erziehung gab. Er wollte, was für mich gut und glücklich war. Das konnte er nur mit guten und glücklichen Mitteln erreichen. Leider aber muß ich, ohne der Zukunft vorzugreifen, sagen, daß meine »Kindheit« jetzt, mit dem fünften Jahre, zu Ende war. Sie starb in dem Augenblick, an dem ich die Augen zum Sehen öffnete. Was diese armen Augen von da an bis heut zu sehen bekamen, war nichts als Arbeit und Arbeit, Sorge und Sorge, Leid und Leid, bis zur heutigen Qual am Marterpfahl, an dem man mich schier ohne Ende peinigt. – — —

      III. Keine Jugend

      Du liebe, schöne, goldene Jugendzeit! Wie oft habe ich dich gesehen, wie oft mich über dich gefreut! Bei Andern, immer nur bei Andern! Bei mir warst du nicht. Um mich gingst du herum, in einem weiten, weiten Bogen. Ich bin nicht neidisch gewesen, wahrlich nicht, denn zum Neid habe ich überhaupt keinen Platz in mir; aber wehe hat es doch getan, wenn ich den Sonnenschein auf dem Leben Anderer liegen sah, und ich stand so im hintersten, kalten Schattenwinkel. Und ich hatte doch auch ein Herz, und ich sehnte mich doch auch nach Licht und Wärme. Aber Liebe muß sein, selbst im allerärmsten Leben, und wenn dieser Aermste nur will, so kann er reicher als der Reiche sein. Er braucht nur in sich selbst zu suchen. Da findet er, was ihm das Geschick verweigert, und kann es hinausgeben an alle, alle, von denen er nichts bekommt. Denn wahrlich, wahrlich, es ist besser, arm und doch der Gebende zu sein, als reich und doch der immer nur Empfangende!

      Hier ist es wohl am Platze, einen Irrtum, in dem man sich über mich befindet, gleich von vornherein aufzuklären. Man hält mich nämlich für sehr reich, sogar für einen Millionär; das bin ich aber nicht. Ich hatte bisher nur mein »gutes Auskommen,« weiter nichts. Selbst hiermit wird es höchst wahrscheinlich zu Ende sein, denn die nimmer ruhenden Angriffe gegen mich müssen endlich doch erreichen, was man mit ihnen erreichen will. Ich mache mich mit dem Gedanken vertraut, daß ich genau so sterben werde, wie ich geboren bin, nämlich als ein armer, nichts besitzender Mensch. Das tut aber nichts. Das ist rein äußerlich. Das kann an meinem inneren Menschen und seiner Zukunft gar nichts ändern.

      Die Lüge, daß ich Millionär sei, daß mein Einkommen 180 000 Mark betragen habe, stammt von einem raffinierten, sehr klug vorausberechnenden Gegner, der ein scharfer Menschenkenner ist und sich keinen Augenblick bedenkt, diese Menschenkenntnis selbst gegen die Stimme des Gewissens in Gewinn und Vorteil umzusetzen. Er wußte sehr wohl, was er tat, als er seine Lüge in die Zeitungen lanzierte. Er erweckte dadurch den allerniedrigsten und allerschlimmsten Feind gegen mich, den Neid. Die früheren Angriffe gegen mich sind jetzt kaum der Rede wert. Aber seit man mich im Besitz von Millionen wähnt, geht man geradezu gnaden- und erbarmungslos gegen mich vor. Sogar in den Artikeln sonst ganz achtbarer und humaner Kritiker spielt diese Geldgehässigkeit eine Rolle. Es berührt unendlich peinlich, Leute, die sich in jedem anderen Falle als litararische [sic] Kavaliere erweisen, auf diesem ordinären Gaul herumreiten zu sehen! Ich besitze ein schuldenfreies Haus, in dem ich wohne, und ein kleines Kapital als eisernen Bestand für meine Reisen, weiter nichts. Von dem, was ich einnehme, bleibt nichts übrig. Das reicht grad aus für meinen bescheidenen Haushalt und für die schweren Opfer, die ich den mir aufgezwungenen Prozessen zu bringen habe. Früher konnte ich meinem Herzen Genüge tun und gegen arme Menschen, besonders gegen arme Leser meiner Bücher, mildtätig sein. Das hat nun aufgehört. Zwar werde ich infolge jener raffinierten Millionenlüge jetzt mehr als je mit Zuschriften gepeinigt, in denen man Geld von mir verlangt, aber ich kann leider nicht mehr helfen, und fast ein Jeder, den ich abweisen muß, fühlt sich enttäuscht und wird zum Feinde. Ich konstatiere, daß jene Gewissenlosigkeit, mich als einen steinreichen Mann zu schildern, mir mehr, viel mehr geschadet hat als alle gegnerischen Kritiken und sonstigen Feindseligkeiten zusammengenommen.

      Nach dieser Abschweifung, die ich für nötig hielt, nun wieder zurück zur »Jugend« dieses angeblichen »Millionärs«, der nach ganz anderen Schätzen strebt als alle die, welche ihn auszubeuten trachten.

      Es waren damals schlimme Zeiten, zumal für die armen Bewohner jener Gegend, in der meine Heimat liegt. Dem gegenwärtigen Wohlstande ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, wie armselig man sich am Ausgange der vierziger Jahre dort durch das Leben hungerte. Arbeitslosigkeit, Mißwuchs, Teuerung und Revolution, diese vier Worte erklären Alles. Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von unserem Nachbarn, dem Gastwirt »Zur Stadt Glauchau«, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der »roten Mühle« und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die