seiner Sehnsucht und erreicht das Ziel seiner Begierde; als Léolin einige Tropfen trinkt, sucht und umarmt er deshalb mit Entzücken die verklärte Gestalt seiner verstorbenen Schwester. (Bekanntlich verlor Renan während eines Aufenthalts in Palästina seine einzige hochgeliebte Schwester, deren Andenken er „Das Leben Jesu“ gewidmet hat.)
Nun ist die Reihe an dem Deutschen zu trinken. Mit thierischer Gier reisst er den Becher an sich und schlürft den starken Trank bis zur Neige, dass er sogleich wie vom Blitz getroffen zum Boden stürzt, dann schnarcht, und endlich zu träumen anfängt. Was glaubt man, dass er jetzt sagt?
„Sieg! Sieg! hängt, brennt, erschiesst! Wir sind die Herren, Alles ist uns erlaubt um sie zum Unterschreiben von Allem, was wir wollen, zu bewegen. Grossmuth! Sentimentalität! lauter Dummheiten!
Wie ärgerlich! Die Truppen sind allzu milde; unsere Leute verstehen wohl todtzuschlagen, aber nicht hinzurichten. Man sollte alle Dörfer verbrennen, alle Mannspersonen aufhängen. So geben sie es wohl auf, sich zu vertheidigen. (Er lacht.) Gefangene! … Unbegreiflich, dass man Leute, die sich vertheidigen, gefangen nimmt. Man sollte sie erschiessen … Man sollte höflich gegen sie sein bis zur obersten Stufe des Schaffots (er lacht vor Vergnügen); aber man sollte sie aufhängen … Man muss den Krieg so grausam wie möglich führen. Sentimentalität! welch lächerliches Ding! Man soll erschiessen, man soll hängen, man soll verbrennen … ah! welch ein angenehmer Geruch! es riecht wie gebratene Zwiebel; es sind Bauern, die man in ihren Häusern verbrennt. Von 160 sind 120 mit Säbeln niedergehauen worden. Ihr Schufte! Warum habt Ihr die übrigen geschont? Wisset Ihr nicht, dass Sentimentalität lächerlich ist? … Wesshalb beginnt man nicht das Bombardement? Man kann leicht das psychologische Moment versäumen“.
Und so noch weiter, Seite auf, Seite ab. Ist dies nicht sonderbar direct und nuancenlos? Welch ein Keulenschlag nach dem Schmetterling der Wahrheit! Welch ein Uebermass polemischer Leidenschaft! Ich will bei der künstlerischen Versündigung gar nicht verweilen, diese vermeintliche Bismarckiade in das Jahr 1310 zu verlegen und mit Ausdrücken wie das „psychologische Moment“ aus dem Ton zu fallen. Wie ist aber all' dies krankhaft bitter! Glaubt Renan wirklich, dass es die Denkart war, die sich hier geltend macht, die in dem grossen Schreckensjahr Frankreich besiegte? Ahnt er wirklich noch nicht, dass die Genialität und das Wissen der Führer, Mannszucht, Pflichtgefühl und Heldenmuth der Geführten das war, was den Ausschlag gab?
Das Unglück ist: Renan kennt Deutschland nicht mehr, kennt es noch weniger als Cherbuliez. Die beiden Männer zehren jetzt an den Eindrücken von Büchern und Zeitungen, lesen mit feindlichen Blicken und machen sich dann Luft in Karikaturen wie Renan oder in witzigen Anzüglichkeiten wie Cherbuliez, und da sie in gar keiner directen persönlichen Beziehung zu Deutschland stehen, nicht mit ihren Augen sehen, nicht mit ihren Ohren hören, so verlieren sie nach und nach die Auffassungsgabe und beurtheilen Deutschland, wie der ungebildete Deutsche Frankreich beurtheilt, wenn er über die französische Unsittlichkeit und desgleichen lamentirt. Aber Renan, der schon 1870 die gegenseitige Verleumdung der Völker als die verhängnissvollste Folge des Krieges voraussah, hätte mehr als irgend ein Anderer auf seiner Hut dagegen sein sollen, besonders seitdem der grosse Krieg bewiesen hat, wie theuer jedes Volk für solche Irrthümer büsst.
V
Mit wechselnden Gefühlen hat Renan der Entwickelung des republikanischen Frankreichs zugeschaut. Obwohl die Republikaner ihm fast sogleich seinen Lehrstuhl zurückgaben, zeigten sie sich doch Renan, wie den übrigen Freunden des Prinzen Napoleon gegenüber, ziemlich kühl und reservirt. Durch und durch aristokratischer Gesinnung wie er ist, gab er in „Caliban“ der Demokratie die glatte Lage, sagte jedoch nichts desto weniger kurz nachher in dem seine Antrittsrede in die französische Akademie erklärenden Brief an einen deutschen Freund: „Wenn nun, während Eure Staatsmänner in dieses undankbare Geschäft (der Ahndung) vertieft sind, der französische Bauer mit seinem groben Verstande, seiner unübertünchten Politik, seiner Arbeit und seinen Ersparnissen glücklich eine ordnungsliebende und dauerhafte Republik gründete! Das wäre spasshaft! Nicht wahr?“ Renan ist Skeptiker genug um immer den Zweifel bereit zu haben und sich häufig zu widersprechen, Patriot und Philosoph genug, um sich zuletzt mit jeglicher Staatsform zu befreunden, welche die Mehrzahl seiner Landsleute befriedigt und ihrem geistigen Standpunkt entspricht.
Renan ist, wie schon erwähnt, Bretagner und hat die Eigenschaften seiner Race. Die Bretagner in der neueren französischen Literatur haben einen gemeinschaftlichen Zug. Wie Chateaubriand und Lamennais, hasst Renan das Alltägliche, das Gutmüthig-Frivole, und hat, während er eine Beute des Zweifels ist, das heisseste Bedürfniss nach einem Glauben und einem Ideal. Desshalb hat er, der grosse Wundervertreiber, irgendwo einen Sehnsuchtsseufzer nach jener Zeit ausstossen können, da die Könige von Frankreich Wunder thaten, durch Handauflegung Kehlkopfs-Entzündungen heilten. Desshalb schwärmt er für den heiligen Franciscus von Assisi, während er den nüchternen Amerikaner Channing geringschätzt. Er hegt für sein engeres Vaterland eine tiefe Anhänglichkeit. Hat er doch sogar in einem hoffnungslosen Augenblick seinen Stamm mit den Worten apostrophirt: „O du einfacher Clan von Ackerbauern und Seeleuten, dem ich es verdanke, in einem erloschenen Land die Kraft meiner Seele bewahrt zu haben!“ Man darf gewiss diesen Stimmungsausbruch nicht buchstäblich nehmen. Niemand empfindet ja tiefer als Renan, wie weit jenes Frankreich, von dem er an Strauss schrieb, es sei „als bleibender Protest gegen Pedanterie und Dogmatismus“ für Europa nothwendig, davon entfernt ist, erloschen zu sein. Aber das Wort ist für den zugleich hartnäckigen und unruhigen, schwärmerischen und skeptischen Bretagner bezeichnend. Gibt er seinen Glauben (wie hier den Glauben an Frankreich) an einem Punkte auf, so ist es nur, um anderswo mit um so wärmerer Begeisterung sich an ein Ideal anzuschliessen. Auch in der Religion hat er ein Bretagne, an welches er glaubt.
Ernest Renan als Dramatiker.
(1893.)
I
Das vornehmste Kennzeichen Renan's ist die mit den Jahren wachsende Originalität.
Es gibt Geister, die bei ihrem ersten Auftreten sich selbständig zeigen, kräftig und vieleckig wie Sonderlinge dastehen, deren Ecken der Lauf der Welt, der Einfluss der Umgebung jedoch allmälig abschleift. Interessanter sind immerhin diejenigen, welchen nur die Anlage zur Ursprünglichkeit angeboren ist, die aber das Verhältniss zur umgebenden Welt, die äusseren Einflüsse so bereichern, so selbständig machen, dass ihre Eigenart am klarsten in ihrer Todesstunde zu Tage tritt. Ernest Renan war solch ein Geist, dessen Eigenthümlichkeit sich erst so recht im letzten Zeitabschnitte seines Lebens enthüllte. In seiner abschliessenden Periode offenbart er sich als eine Persönlichkeit, die allmälig durchaus originell geworden war.
Er ward es in folgender Weise: Aus der Bretagne stammend, der Abkömmling einer langen Reihe schlichter Ackerbauer und Seeleute, wurde er frühzeitig zum Priester erzogen. Als Erbe hatte er einen gesunden, aber schweren, plumpen Körper mitbekommen, einen Geist, der ernst, subtil, schwärmerisch, je mehr er sich verweltlichte, um so mehr Witz zu entfalten vermochte. Er empfand stark und tief und lebte in sich zurückgezogen, verschlossen, nach Aussen hin verschämt, scheinbar furchtsam, sein inneres Leben mit der Energie der Innigkeit. Bei aller Lernbegier einer reich ausgestatteten Intelligenz wartete er in den Tiefen des Gemüthes mancher schönen Traumblüthe, erhob sich auch nicht selten zum Fluge auf den Fittigen einer keltischen sagenfrohen Einbildungskraft.
Er schien dazu geboren, ein gläubiger, einflussreicher Geistlicher zu werden. Katholische Hymnen lagen ihm auf der Zunge, ein Duft von Weihrauch breitete sich über sein Gefühlsleben, und Salbung war in seinem Pathos.
Indessen brachten das Studium der semitischen Sprachen, das philologische Verhältniss zur Bibel seinen Jugendglauben ins Schwanken. Er lernte deutsche Literatur und Philosophie kennen, ward von Herder ergriffen, von Hegel mit fortgerissen. Bald war sein religiöser Glaube aus allen Verschanzungen geworfen. Ein Rausch von intellectueller Begeisterung überwältigte ihn. Sein Bretagner Christenthum schien im ersten Augenblicke von der deutschen Vernunft gänzlich ausgerodet. Jene ältere französische Verstandescultur, welche die Voraussetzung der deutschen Wissenschaft war, hatte ihm keinen Abbruch gethan; denn die französische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts erregte in ihrer Dürftigkeit und Trockenheit nur seine heftige Missachtung. Das Deutschland der Jahrhundertwende schien ihm das ideale Land. Ein Land,