denen unaufhörlich Tränen flossen, und schwieg.
„Was soll man anfangen mit einem solchen Chamer3?“ fragte Rosenzweig die Großmutter.
Die Greisin entgegnete:
„Laß ihn heute noch ruhen unter deinem Dache. Sei ihm barmherzig. Er ist eine Waise wie du.“
Am nächsten Tage lautete ihr Rat:
„Behalte ihn. Unsre Magd wird ohnehin alt und wackelig und kann eine Hilfe brauchen. Behalte ihn und richte ihn ab zu deinem Dienst. Wer wird es verargen einem großen Mann wie dir, wenn er tut sich halten einen Famulus?“
So wurde der Findling ein Genosse des Doktorhauses und zwar, obwohl Rosenzweig das nicht gelten ließ, ein ungemein nützlicher. In den Augen seines Herrn blieb Joseph ein „Chamer“, der aus Büchern nichts lernte, nichts zu lernen vermochte. Mit achtzehn Jahren noch las er nicht ohne Schwierigkeit die einfachsten Kindergeschichten. Ihn zur Schule zu zwingen, hatte der Doktor schon nach den ersten Monaten aufgegeben, weil er nur mit Schlägen dahin zu bringen war, und weil sein Wohltäter nicht immer Muße hatte, ihm die zu spenden. Seine mechanischen Fertigkeiten hingegen waren groß und groß der Fleiß, mit dem er sie ausübte. Auch er pfuschte in jedes Handwerk, aber mit besserem Erfolg als dereinst der Doktor.
In allem, was er unternahm, offenbarte sich ein Schick, eine Leichtigkeit, ja sogar ein Geschmack, der den Pillenschächtelchen des Doktors ebensosehr zugute kam, wie den Blumenbeeten im Gärtlein vor dem Hause. Immer nur mit Verdruß hörte Nathanael ihn loben, „den Tagedieb, der nichts kann und nie etwas andres können wird als spielen.“
Er hatte einmal wieder diesen Vorwurf ausgesprochen, da entgegnete Joseph:
„Wenn du dich entschließen könntest, deine Felder in deine eigene Verwaltung zu nehmen, würde ich dir beweisen, daß ich kein Tagedieb bin.“
Der Doktor fuhr fort:
„Was sprichst du von meinen Feldern? Weißt du nicht, daß ich ein Jude bin und als solcher Grundeigentum nicht besitzen darf? Weißt du nicht, daß sogar mein Haus auf fremdem Boden steht?“ –
Joseph wurde rot vor Verlegenheit, sah jedoch dem Doktor vertrauensvoll und offen ins Gesicht und erwiderte:
„Du hast die Felder auf den Namen des Theophil von Kamatzki gekauft, aber sie sind doch dein.“
„Sag einmal, mein Junge, woher hast du diese Nachricht?“ fragte Rosenzweig, und höchst verdächtig war die Gebärde, mit der er dabei sein spanisches Rohr zu schwenken begann.
Gelassen antwortete Joseph:
„Das ist kein Geheimnis. Alle Leute wissen es und gönnen dir die Felder.“
Während dieses Gespräches standen die beiden mitten auf dem Wege, der schnurgerade von der Haustür zum Gartenpförtlein führte, zwischen zwei säuberlich mit Reseden eingefaßten Rosenbeeten. An den Stachelbeerhecken, die Joseph längs des Lattenzaunes gezogen hatte, reiften die ersten Früchte. Was man überblicken konnte an zart entfalteten Salatstauden, an Rüben mit kühnen Federbüschen, an gelblich zwischen gekräuselten Blättern hervorleuchtendem Blumenkohl, an schier kriegerisch behelmtem Zwiebelnachwuchs, an zierlichem Majoran und – dulce cum utile – als Begrenzung jeglichen Gemüsekarrees an duftendem Lavendel, dessen kleine Knospen zu schwellen anfingen, das war alles so kraftstrotzend und kerngesund, daß bei dem Anblick jedem Menschen, besonders aber einem Arzte, das Herz im Leibe lachen mußte. Mit geheimem Wohlgefallen betrachtete Rosenzweig die freundlichen Himmelsgaben und sagte:
„Weil du ein leidlicher Gärtner bist, bildest du dir ein, auch ein Landwirt sein zu können.“ Damit wollte er abbrechen, besann sich aber und fügte hinzu, indem er die Spitze seines Stockes mit großer Hartnäckigkeit in die Erde bohrte und diese Operation scheinbar höchst aufmerksam verfolgte:
„Ich hätte die Felder nicht – eigentlich mit einem gewissen Unrecht – in meinen Besitz gebracht, wenn ich nicht hoffen dürfte, sie bald zu Recht besitzen zu dürfen. Du wirst wohl wissen, daß eine Veränderung der Landesgesetze bevorsteht, und daß an den größeren Freiheiten, die sie dem Volke Galiziens gewähren werden, auch die Juden teilnehmen sollen.“
Joseph wußte das und hoffte, der Doktor werde die Felder, wenn sie einmal vor Gott und der Welt sein Eigentum sein würden, nicht mehr in Pacht geben, sondern selbst bewirtschaften.
„Dann wirst du Ställe und Scheuern bauen müssen,“ schloß der Jüngling. „Ich habe dem Architekten in der Stadt etwas abgesehen und die Pläne schon fertig.“
„Bist ein Narr,“ sprach der Doktor, verlangte aber nach einigen Tagen doch die Pläne zu sehen.
Nun, brauchbar waren sie gewiß nicht, doch als merkwürdig mußte man es gelten lassen, daß der Findling, dessen Schrift die eines siebenjährigen Kindes war, doch so nett und ordentlich und vielleicht auch in den Maßen richtig, einen Plan zu zeichnen vermochte. Das ist eben einer von denen, die tanzen können, bevor sie das Gehen erlernt haben. Es gibt solche Käuze. Sie setzen uns allerdings manchmal in Erstaunen; gewöhnlich wird aber nichts aus ihnen.
Nathanael, der einen Gedanken, der sein eigenes Wohl und Weh betraf, nie lange verfolgte, ohne die Großmutter zu seiner Vertrauten zu machen, fragte bald darauf bei ihr an, was sie zu einer Selbstverwaltung seiner Gründe sagen würde. Da zeigte es sich, daß dieser Gegenstand zwischen der Greisin und dem Findling schon erörtert worden war.
„Du wirst reich werden wie Laban,“ prophezeite die alte Frau. „Über dir ist des Herrn sichtbarer Segen.“
In diesem Frühjahr hatte es sich erwiesen, in diesem für Tausende unseligen Frühjahr 1845, als die Weichsel aus ihren Ufern trat und in einen schlammigen See verwandelte, was üppig und verheißungsvoll grünende Saat gewesen war. Unaufhaltsam wie ein Gottesgericht waren die Fluten hereingebrochen, hatten die ernährende Scholle hinweggespült und mit ihr das Hab und Gut und die Hoffnung derer, die sie bebauten.
Bis dicht an die Grenze der Felder Nathanaels erstreckte sich die Verheerung – vor ihnen zerrannen die Wellen. Vor ihnen waren die Wasser hinweggefahren und hatten sich auseinander geteilt, wie einstens die Wasser des Roten Meeres, als Moses gegen sie den Stab erhob und die Hand reckte auf Gottes Gebot.
Und als der Herbst kam, herrschte ringsum Hungersnot. Hunderte verließen mit ihren Weibern und Kindern die Heimat und wanderten als Bettler, als Tagelöhner, Brot und Arbeit suchend, aus.
Die Großmutter aber fragte täglich:
„Wann beginnt die Ernte? In diesem Jahre hat der Weizen hundertfachen Wert. Wann kommen die Schnitter?“
Nathanael erwiderte lächelnd:
„Bald, sehr bald. Sie wetzen schon die Sensen!“
Indessen erlebte die Greisin die Zeit der Ernte nicht mehr. Sie fiel selbst als überreifes Körnlein in den Mutterschoß der Erde zurück, bevor ihr Enkel zu ihr hatte sprechen können:
„Die Schnitter kommen!“
Unerhört spät und doch zu früh war plötzlich ihr Leben erloschen.
Da lag sie nun in ihrem schmalen Sarge, die alte Rebekka, ein wundersam ergreifender Anblick. Der Tod hatte ihre gekrümmte Gestalt gestreckt, und weinend und staunend fragte Joseph:
„So groß war sie?“
Er fragte aber auch:
„So schön war sie?“
Erlöst von allen Gebresten, befreit von der Hilflosigkeit des Alters, wie majestätisch erschien sie nun, in ihrer unendlichen Ruhe, in ihrem untrübbaren Frieden! Das Lächeln auf dem Angesicht so vieler, die überwunden haben, umschwebte diese Lippen nicht. Steinerne Kälte sprach aus den Zügen, die ein Schimmer der begeisterten Liebe und Bewunderung, welche die Gegenwart des Enkels stets auf ihnen hervorgezaubert, noch in der Sterbestunde erhellt hatte.
Du bist es nicht mehr! dachte Nathanael, und mit grauser Gewalt ergriff ihn das Bewußtsein des erlittenen Verlustes.
Er winkte Joseph hinweg, er wollte ungestört bei seiner Toten bleiben. Am Fußende des Sarges stehend, suchte er in dem fremden,