Marie von Ebner-Eschenbach

Ein Buch, das gern ein Volksbuch werden möchte


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das Ferment an, das die stumpfsinnige Menge in Gärung bringen, in eine Bewegung setzen sollte, der die Richtung vorzuschreiben sie sich anmaßten? –

      Die Sympathie und Bewunderung, die jeder echte Pole für den empfindet, der im Kampfe gegen die Fremdherrschaft gelitten hat, bewährte sich von neuem. Der Adel nahm den Geächteten in Schutz, obwohl er einen Gegner seiner Interessen in ihm erkannte. Mochte er welcher Partei immer angehören, die Befreiung Polens war auch sein Ziel, auf dem Wege traf man zusammen und drückte einander die Hand.

      „Und sehen Sie,“ schloß der Kreishauptmann, „so sehr ist der Mensch in mir im Beamten doch nicht aufgegangen, daß ich diese Polen um solcher Züge ihres oft unbesonnenen, blinden, stets aber hochherzigen Patriotismus willen nicht lieben und zugleich – beneiden müßte.“

      „Euer Gnaden!“ rief Nathanael mißbilligend aus, und beide Männer schwiegen. Nach geraumer Zeit erst nahm der Doktor wieder das Wort:

      „Ich glaube, Euer Gnaden, es wäre Sache der Regierung, vor allem sich und den Adel vor dem verderblichen Einfluß des kommunistischen großen Herrn zu schützen.“ Hier flocht er das ruthenische Sprichwort ein: ‚Ein schlechter Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt.‘ – „Ich begreife nicht, warum man so lange untätig zusieht. Warum man ihn nicht hindert gleichsam unter den Augen der gesetzlichen Macht sein tödliches Gift auszustreuen.“

      Unangenehm berührt durch die Entschiedenheit, mit der Rosenzweig sprach, entgegnete der Kreishauptmann mit kühler Überlegenheit:

      „Es geschieht schwerlich ohne Grund. Übrigens – unter uns! – wir haben Weisung, auf ihn zu fahnden – in unauffälliger Weise.“

      „O – dann!“ rief Nathanael übereifrig – „dann beschwöre ich Euer Gnaden, meine Dienste in Anspruch zu nehmen. Unauffälliger wäre nichts, als einen Kranken dem Arzte anzuvertrauen. Und daß Ihr ‚Sendbote‘ krank ist – hier,“ er deutete auf die Stirn, „und in das Beobachtungszimmer des Kreisphysikus gehört, darauf schwöre ich!“

      Der Ausdruck im Gesichte des Beamten wurde immer kälter; er richtete plötzlich eine gleichgültige Frage an den Doktor und entließ ihn, indem er beim Abschied warnend Talleyrands berühmtes „Surtout pas trop de zèle!“ zitierte.

      Die Warnung blieb fruchtlos. Des Doktors ein mal entfesselter Eifer für die Sache der Ordnung und des Gesetzes war nicht mehr zu bändigen. Er hätte die Friedlosigkeit, die ihn umherjagte, auch den andern mitteilen mögen, legte einen Abscheu ohnegleichen gegen die zuwartende Geduld an den Tag, deren man sich in maßgebenden Kreisen befliß, und nannte sie verbrecherischen Leichtsinn und unverzeihliche Lauheit.

      Sein politisches Glaubensbekenntnis hatte sich bisher in dem Satze zusammenfassen lassen:

      „Unsre Regierung wird die denkbar beste sein, sobald sie sich nur noch herbeiläßt, den Juden das Recht zu geben, Grund und Boden zu besitzen.“ Jetzt aber war ihm der Glaube an die Weisheit dieser Regierung erschüttert, und er begann sich als ihr Belehrer und Ratgeber zu gebärden. Auf dem Kreisamt hatte man wenig Ruhe vor ihm, er brachte täglich neue, immer bedenklicher lautende Nachrichten von dem Umsichgreifen der kommunistischen Propaganda, und riet immer dringender, man möge sich doch entschließen, energische Sicherheitsmaßregeln zu ergreifen.

      Die genaue Bekanntschaft des Schwiegersohnes Semen Plachtas, die er gemacht hatte, gab ihm viel zu denken. Er hatte sich bisher niemals mit dem Studium einer Bauernseele beschäftigt. Ein Bauer war in seinen Augen der uninteressanteste von allen mit einer Menschenhaut überzogenen Bipedes. Jetzt nahm er einen von der Sorte aufs Korn, beobachtete ihn genau, ging sogar mit ihm ins Wirtshaus, ließ sich mit ihm in Gespräche ein und wußte am dritten Tage, was er schon im ersten Augenblick gewußt hatte, daß der Mann faul, trunksüchtig und einfältig war. Wie einfältig, das kam erst zum Vorschein, wenn ihm der Branntwein die schwere Zunge löste und es nur weniger Fragen bedurfte, um sich zu überzeugen, daß ihm sogar die Kardinalerkenntnis der Unterscheidung zwischen mein und dein fehlte.

      Der Doktor fuhr zur Gräfin Aniela und hielt ihr einen Vortrag über den Zustand der Landbevölkerung. „Ja,“ schloß er, „der Bauer ist dumm, aber wodurch soll er denn gescheit werden, wenn er es nicht zufällig von Natur ist? Ja, der Bauer ist faul, aber was würde die Arbeitsamkeit ihm nützen, sie brächte ihn doch nimmer auf einen grünen Zweig. Seine Arbeitsamkeit käme mehr dem Herrn zugute als ihm. Ja, der Bauer trägt den heute verdienten Groschen heute noch in die Schenke, aber diese Verschwendung kommt von seinem Elend. Das Elend ist nicht sparsam, das Elend vermag einen so gesunden und fruchtbringenden Gedanken, wie den der Sparsamkeit, gar nicht zu fassen.“

      Gräfin Aniela streckte das zierliche Hälschen in die Höhe, ihre lieblichen Lippen verzogen sich spöttisch.

      „Verehrter Lebensretter, Sie sprechen ja ganz wie der ‚Sendbote‘,“ sagte sie, „man glaubt ihn zu hören.“

      Der Doktor schwieg; der scherzhaft gemeinte Vorwurf traf ihn tief.

      Eine Stunde später stand er in seiner Baumschule vor einem Stämmchen, nicht viel dicker als ein Finger, und doch trug es schon unter seiner kleinen Blätterkrone drei herrliche Äpfel, völlig reif beinah, mit gelblich glänzender Schale. Zu jeder andern Zeit hätte der Doktor an dem Anblick seine Freude gehabt, heute vermehrte sich durch ihn nur sein Mißmut. Joseph kam aus dem Hause, sein Arbeitsgerät auf der Schulter, und wollte den Wohltäter noch zu andern Bäumchen führen, die ein ebenso kräftiges Streben, brave Bäume zu werden, an den Tag legten, wie das, welches er staunend betrachtete.

      Er erhielt keine Antwort. Mit finsterer Strenge funkelten die schwarzen Augen Rosenzweigs unter ihren buschigen Brauen den Jüngling an, und plötzlich sprach er:

      „Sag einmal, hast du nie etwas von einem Freiheitshelden, so eine Art Narren gehört, der sich hier in der Gegend aufhält, und, wie man behauptet, den Bauern in den Wirtshäusern Revolution predigt?“

      Joseph sah offenbar betroffen aus und schwieg.

      „Gesteh! Gesteh!“ befahl Rosenzweig, und sein drohendes, zornrotes Gesicht näherte sich dem des Jünglings.

      „Ich weiß nicht, Herr,“ stammelte dieser, „ob du den meinst, den sie den Sendboten nennen.“

      „Den eben meine ich!“

      „Der predigt aber nicht Revolution, der predigt Fleiß und Nüchternheit.“

      „Fleiß im Stehlen, Nüchternheit beim Totschlagen – was?“ höhnte der Doktor.

      Ungewohnterweise ließ sich Joseph nicht aus der Fassung bringen. Noch mehr! Er erlaubte sich einen Widerspruch:

      „Du bist im Irrtum. Ich kenne ihn.“

      Rosenzweig prallte mit einem unartikulierten Ausruf zurück, und Joseph fuhr fort:

      „Ich habe lange mit ihm gesprochen.“

      „Wo? und wann? und was?“

      „Auf dem Felde, in der vorigen Woche; und von dir ist die Rede gewesen.“

      „– Von mir?“

      Aus dem Munde des Chamers hat er seine Nachrichten über mich? dachte der Doktor. – Nun, sie sind danach!

      „Ich habe ihn nie predigen gehört,“ nahm Joseph wieder das Wort.

      „Möchtest aber wohl?“

      „O ja! – ich möchte wohl. Kein Pfarrer kann es ihm gleichtun, heißt es. Es heißt auch, daß er heute nacht zum letztenmal in unsrer Gegend sprechen wird, in der Schenke des Abraham Dornenkron, eine Meile von hier, auf der Straße nach Dolego.“

      Eine lange Pause entstand, der der Doktor ein Ende machte, indem er Joseph befahl, an die Arbeit zu gehen; er selbst begab sich zum Kreishauptmann, meldete, was er soeben in bezug auf den Emissär in Erfahrung gebracht hatte, und fragte an, ob es nicht geraten wäre, ein Pikett Husaren nach der Schenke zu schicken und den Aufwiegler gefangen nehmen zu lassen.

      „Was nötig ist, wird geschehen, mein lieber Rosenzweig!“ antwortete der Beamte. „Wir sind von allem, was vorgeht, auf das genaueste unterrichtet und finden darin keinen Grund zur Sorge. Wovor fürchten denn Sie sich? Sie gehören zu uns. Ich wollte, ich könnte etwas