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Die Inzestscheu Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker I
Von allem Anfang an hat die psychoanalytische Forschung auf Ähnlichkeiten und Analogien ihrer Ergebnisse am Seelenleben des Einzelwesens mit solchen der Völkerpsychologie hingewiesen. Es geschah dies, wie begreiflich, zuerst nur schüchtern, in bescheidenem Umfange und ging nicht über das Gebiet der Märchen und Mythen hinaus. Die Absicht solchen Ausgreifens war keine andere als die, ihren an sich recht unwahrscheinlichen Resultaten durch solche unerwartete Übereinstimmungen Glaubwürdigkeit zu schaffen.
In den seither verflossenen anderthalb Jahrzehnten hat die Psychoanalyse aber Zutrauen zu ihrer Arbeit gewonnen; die nicht unansehnliche Schar von Forschern, die der Anregung eines einzelnen gefolgt sind, hat es zu einer befriedigenden Übereinstimmung in ihren Anschauungen gebracht, und nun scheint der Zeitpunkt günstig, um der über die Individualpsychologie hinausgreifenden Arbeit ein neues Ziel zu setzen. Es sollen nicht nur ähnliche Vorkommnisse und Zusammenhänge im Seelenleben der Völker aufgespürt werden, wie sie durch die Psychoanalyse beim Individuum ans Licht gezogen wurden, sondern auch der Versuch gewagt werden, was in der Völkerpsychologie dunkel oder zweifelhaft geblieben ist, durch die Einsichten der Psychoanalyse aufzuhellen. Die junge psychoanalytische Wissenschaft will gleichsam zurückerstatten, was sie in ihren Anfängen anderen Wissensgebieten zu danken hatte, und hofft, mehr wiedergeben zu können, als sie seinerzeit empfing.
Eine Schwierigkeit des Unternehmens liegt in der Qualifikation der Männer, welche sich dieser neuen Aufgabe unterziehen. Es wäre vergeblich zu warten, bis die Mythenforscher, Religionspsychologen, Ethnologen, Linguisten usw. den Anfang machen, psychoanalytische Denkweisen auf ihr eignes Material anzuwenden. Die ersten Schritte in all diesen Richtungen müssen durchaus von jenen unternommen werden, die sich bisher als Psychiater oder Traumforscher in den Besitz der psychoanalytischen Technik und ihrer Ergebnisse gesetzt haben. Solche sind aber zunächst Laien auf anderen Wissensgebieten, und wenn sie mühselig einige Kenntnis darin erworben haben, Dilettanten oder im besten Falle Autodidakten. Ihre Leistungen werden Schwächen und Fehler nicht vermeiden können, welche der zünftige Forscher, der Fachmann, mit seiner Beherrschung des Materials und seiner Übung, es zu handhaben, leicht entdecken und vielleicht mit überlegenem Spott verfolgen wird. Möge er in Erwägung ziehen, daß unsere Arbeiten ja nichts anderes bezwecken, als ihm die Anregung zu bringen, daß er selbst es besser mache, indem er an den ihm vertrauten Stoff das Instrument versucht, welches wir ihm leihen können.
Für die nachstehende kleine Arbeit muß ich aber noch eine andere Entschuldigung geltend machen, als daß sie den ersten Schritt des Autors bedeutet auf einem ihm bisher fremden Boden. Es kommt noch hinzu, daß sie infolge verschiedener äußerlicher Antriebe vorzeitig an das Licht der Öffentlichkeit gedrängt wurde, nach weit kürzerer Inkubationszeit als des Autors sonstige Mitteilungen, lange ehe ihm ermöglicht war, die reichhaltige Literatur des Gegenstandes durchzuarbeiten. Wenn ich trotzdem diese Veröffentlichung nicht aufgeschoben habe, so beschwichtigt mich die Erwägung, daß erste Arbeiten ohnedies meist darin fehlen, daß sie zuviel umfassen wollen und eine Vollständigkeit der Lösung anstreben, die, wie spätere Studien zeigen, fast niemals im ersten Anlauf zu erreichen ist. Es schadet also wenig, wenn man sich mit Absicht und Wissen auf eine kleine Probe beschränkt. Außerdem befindet sich der Autor in der Situation des Knaben, der im Walde ein Nest von köstlichen Beeren und guten Pilzen gefunden hat und nun den Gefährten ruft, ehe er selbst alle gepflückt hat, weil er sieht, daß er allein nicht imstande ist, die Fülle zu bewältigen.
Für jeden an der Entwicklung der psychoanalytischen Forschung Beteiligten war es ein denkwürdiger Moment, als C. G. Jung auf einer privaten wissenschaftlichen Zusammenkunft durch einen seiner Schüler mitteilen ließ, daß die Phantasiebildungen gewisser Geisteskranker (Dementia praecox) in auffälligster Weise mit den mythologischen Kosmogenien alter Völker zusammenstimmten, von denen die ungebildeten Kranken eine wissenschaftliche Kunde unmöglich erhalten hatten1. Es war hiemit nicht nur auf eine neue Ursprungsquelle der sonderbarsten psychischen Krankheitsproduktionen hingewiesen, sondern auch in nachdrücklichster Weise die Bedeutung des Parallelismus zwischen ontogenetischer und phylogenetischer Entwicklung auch für das Seelenleben betont. Der Geisteskranke und der Neurotiker rücken somit in die Nähe des Primitiven, des Menschen entlegener Vorzeit, und wenn die Voraussetzungen der Psychoanalyse richtig sind, muß, was ihnen gemeinsam ist, auf den Typus des kindlichen Seelenlebens zurückführbar sein.
Den Menschen der Vorzeit kennen wir in den Entwicklungsstadien, die er durchlaufen hat, durch die unbelebten Denkmäler und Geräte, die er uns hinterlassen, durch die Kunde von seiner Kunst, seiner Religion und Lebensanschauung, die wir entweder direkt oder auf dem Wege der Tradition in Sagen, Mythen und Märchen erhalten haben, durch die Überreste seiner Denkweisen in unseren eigenen Sitten und Gebräuchen. Außerdem aber ist er noch in gewissem Sinne unser Zeitgenosse; es leben Menschen, von denen wir glauben, daß sie den Primitiven noch sehr nahe stehen, viel näher als wir, in denen wir daher die direkten Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen erblicken. Wir urteilen so über die sogenannten wilden und halbwilden Völker, deren Seelenleben ein besonderes Interesse für uns gewinnt, wenn wir in ihm eine gut erhaltene Vorstufe unserer eigenen Entwicklung erkennen dürfen.
Wenn diese Voraussetzung zutreffend ist, so wird eine Vergleichung der »Psychologie der Naturvölker«, wie die Völkerkunde sie lehrt, mit der Psychologie des Neurotikers, wie sie durch die Psychoanalyse bekannt worden ist, zahlreiche Übereinstimmungen aufweisen müssen, und wird uns gestatten, bereits Bekanntes hier und dort in neuem Lichte zu sehen.
Aus äußeren wie aus inneren Gründen wähle ich für diese Vergleichung jene Völkerstämme, die von den Ethnographen als die zurückgebliebensten, armseligsten Wilden beschrieben worden sind, die Ureinwohner des jüngsten Kontinents, Australien, der uns auch in seiner Fauna soviel Archaisches, anderswo Untergegangenes, bewahrt hat.
Die Ureinwohner Australiens werden als eine besondere Rasse betrachtet, die weder physisch noch sprachlich Verwandtschaft mit ihren nächsten Nachbarn, den melanesischen, polynesischen und malaiischen Völkern erkennen läßt. Sie bauen weder Häuser noch feste Hütten, bearbeiten den Boden nicht, halten keine Haustiere bis auf den Hund, kennen nicht einmal die Kunst der Töpferei. Sie nähren sich ausschließlich von dem Fleische aller möglichen Tiere, die sie erlegen, und von Wurzeln, die sie graben. Könige oder Häuptlinge sind bei ihnen unbekannt, die Versammlung der gereiften Männer entscheidet über die gemeinsamen Angelegenheiten. Es ist durchaus zweifelhaft, ob man ihnen Spuren von Religion in Form der Verehrung höherer Wesen zugestehen darf. Die Stämme im Innern des Kontinents, die infolge von Wasserarmut mit den härtesten Lebensbedingungen zu ringen haben, scheinen in allen Stücken primitiver zu sein als die der Küste nahewohnenden.
Von diesen armen nackten Kannibalen werden wir gewiß nicht erwarten, daß sie im Geschlechtsleben in unserem Sinne sittlich seien, ihren sexuellen Trieben ein hohes Maß von Beschränkung auferlegt haben. Und doch erfahren wir, daß sie sich mit ausgesuchtester Sorgfalt und peinlichster Strenge die Verhütung inzestuöser Geschlechtsbeziehungen zum Ziel gesetzt haben. Ja ihre gesamte soziale Organisation scheint dieser Absicht zu dienen oder mit ihrer Erreichung in Beziehung gebracht worden zu sein.
An Stelle aller fehlenden religiösen und sozialen Institutionen findet sich bei den Australiern das System des Totemismus. Die australischen Stämme zerfallen in kleinere Sippen oder Clans, von denen sich jeder nach seinem Totem benennt. Was ist nun der Totem? In der Regel ein Tier, ein eßbares, harmloses oder gefährliches, gefürchtetes, seltener eine Pflanze oder eine Naturkraft (Regen, Wasser), welches in einem besonderen Verhältnis zu der ganzen Sippe steht. Der Totem ist erstens der Stammvater der Sippe, dann aber auch ihr Schutzgeist und Helfer, der ihnen Orakel sendet, und wenn er sonst gefährlich ist, seine Kinder kennt und verschont. Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten) und sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet) zu enthalten. Der Totemcharakter haftet nicht an einem Einzeltier oder Einzelwesen,