einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. – Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung jemandem immerwährende Liebe gelobt.
Intellect und Moral. – Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intellects gebunden.
Sich rächen wollen und – sich rächen. – Einen Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätzungen sind kurzsichtig.
Warten-können. – Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben – wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen? ist es denn so etwas Ungeheures? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches: Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zeit und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. – Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen noch warten können: ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt: "entweder lebe ich weiter, dann muss jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger leiden; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist.
Schwelgerei der Rache. – Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschwelgen zu können.
Werth der Verkleinerung. – Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so -
Der Auf brausende. – Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen, wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. – Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer bewahrt.
Wohin die Ehrlichkeit führen kann. – Jemand hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen will – sich selber – brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod.
Sträflich, nie gestraft. – Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.
Sancta simplicitas der Tugend. – Jede Tugend hat Vorrechte: zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern.
Moralität und Erfolg. – Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungswürdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: "gebt mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht – und mich vor mir selber ehrlich gemacht." – Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die griechische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des ersteren, – obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epikur's Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben.
Liebe und Gerechtigkeit. – Warum überschätzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersichtlich dümmer als jene? – Gewiss, aber gerade desshalb um so viel angenehmer für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn; aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht.
Hinrichtung. – Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, – ich meine die veranlassenden Umstände.
Die Hoffnung. – Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und "Glücksfass" zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, – es ist die Hoffnung. – Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.
Grad der moralischen