Stendhal

Römerinnen: Zwei Novellen


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Sie haben keinen Wundarzt?« rief Vanina aus.

      »Wie Sie wissen, sind in Rom die Ärzte verpflichtet, der Polizei über alle Wunden, die sie behandeln, genau zu rapportieren. Der Fürst hat mir diesen Verband hier eigenhändig anzulegen geruht.«

      Mit vollendetem Geschick vermied die Unbekannte jegliche Rührseligkeit. Vanina war toll verliebt. Etwas freilich störte die junge Prinzessin stark. Sie machte nämlich die Wahrnehmung, daß die Fremde einmal mitten in der doch so ernsten Unterhaltung Mühe hatte, eine plötzliche Lachlust zu unterdrücken.

      »Ich möchte Ihren Namen gern wissen,« sagte Vanina zu ihr.

      »Ich heiße Clementina.«

      »Also, liebe Clementina, morgen um fünf komme ich wieder!«

      Am nächsten Tage traf Vanina ihre neue Freundin in verschlimmertem Zustande an.

      »Ich werde einen Wundarzt holen lassen,« schlug Vanina vor, indem sie die Kranke umarmte.

      »Lieber will ich sterben,« erwiderte diese, »als daß ich meinen Wohltäter in Gefahr brächte.«

      Vanina redete ihr eifrig zu:

      »Der Wundarzt von Monsignore Savelli-Catanzara, dem Stadtkommandanten Roms, ist der Sohn eines unsrer Dienstboten. Er ist uns ergeben und braucht in seiner Stellung vor niemandem Furcht zu haben. Mein Vater tut ihm unrecht, indem er ihn nicht für unbedingt zuverlässig hält. Ich werde ihn rufen lassen …«

      »Nein, nein! Ich will keinen Arzt!« rief die Unbekannte mit einer Lebhaftigkeit, die Vanina hätte stutzig machen müssen. »Nur Sie sollen kommen und mich besuchen. Und wenn es Gott gefällt, mich zu sich zu rufen, so werde ich glücklich sterben in Ihren Armen.«

      Am folgenden Tage war ihr Befinden noch schlechter. Beim Weggehen sagte Vanina:

      »Wenn Sie mich lieben, dann erlauben Sie mir, daß ich endlich einen Wundarzt holen lasse.«

      »Wenn er kommt, ist mein Glück dahin.«

      »Ich muß es tun,« erklärte Vanina.

      Die Unbekannte hielt sie zurück, indem sie ohne ein Wort zu sagen ihre Rechte ergriff und Küsse darauf drückte. Lange sprach keins von beiden. Der Fremden standen Tränen in den Augen. Endlich gab sie Vaninas Hand frei und sagte in einem Tone, als gehe sie in den Tod:

      »Ich muß Ihnen ein Geständnis machen. Vorgestern, als ich Ihnen sagte, ich hieße Clementina, da hab ich gelogen. Ich bin ein unglücklicher Karbonaro …«

      Vanina war tief betroffen. Sie rückte ihren Stuhl zurück, und bald darauf erhob sie sich.

      Der Kranke seufzte.

      »Ich weiß wohl,« sagte er, »mein Bekenntnis beraubt mich des einzigen Glückes, das mich noch ans Leben bindet. Aber es wäre meiner unwürdig, wenn ich Sie weiter täuschte. Ich heiße Pietro Missirilli und bin neunzehn Jahre alt. Mein Vater ist ein armer Arzt in San Angelo in Vado, und ich bin Karbonaro. Wir sind bei unsrer letzten Venta überrumpelt worden. Man hat mich in Ketten von der Romagna nach Rom geschleppt. Dreizehn Monate lag ich in einem Kerkerloche, Tag und Nacht bei trübem Laternenlicht. Da geriet eine barmherzige Seele auf den Gedanken, mich retten zu wollen. Man zog mir Frauenkleider an. So entrann ich meiner Zelle und war schon an der Außenwache vorbei, da hörte ich, daß einer der Posten auf die Karbonari schimpfte. Ich verabreichte ihm eine Ohrfeige. Ich versichere Sie: das war nicht etwa eitle Prahlerei. Es geschah aus Geistesabwesenheit. Nach dieser Unbesonnenheit wurde ich durch die Straßen Roms verfolgt. Es war Nacht. Ich bekam Bajonettstiche und schon verließen mich meine Kräfte … Da laufe ich in ein Haus, dessen Türe offen stand. Ich höre, wie die Soldaten hinter mir die Treppe hinaufrennen. Ich springe in den Nachbargarten und falle zu Boden, ein paar Schritte vor einer Dame, die dort spazieren geht …«

      »Das war die Contessa Vitelleschi, die Freundin meines Vaters …« unterbrach ihn Vanina.

      »Was! Sie hat es Ihnen erzählt?« rief Missirilli aus. »Wie dem auch sei: diese Dame, deren Name nie genannt werden soll, hat mir das Leben gerettet! Als die Soldaten in ihr Haus drangen, um mich zu ergreifen, brachte mich Ihr Herr Vater in seinem Wagen hierher … Es geht mir gar nicht gut. Der Bajonettstich in der Schulter erschwert mir seit mehreren Tagen das Atmen. Ich werde sterben … und zwar, wenn ich Sie nicht wiedersehe, in der unseligsten Stimmung …«

      Vanina hatte geduldig zugehört. Eilends ging sie dann fort. Missirilli glaubte in ihren schönen Augen nicht die Spur von Mitgefühl, sondern nichts als gekränkten Stolz gesehen zu haben.

      In der Nacht stellte sich ein Wundarzt ein. Er kam allein. Missirilli war in Verzweiflung. Er fürchtete, Vanina nie wiederzusehen. Er fragte den Arzt aus. Der waltete seines Amtes, gab aber keine Antwort. Ebenso schweigsam blieb er an den nächsten Tagen.

      Unverwandt ruhten Pietros Augen auf der Fenstertüre nach der Terrasse, durch die Vanina eingetreten war. Er fühlte sich sterbensunglücklich.

      Einmal, gegen Mitternacht, kam es ihm vor, als husche ein Schatten über die Terrasse. War das Vanina?

      Allnächtlich preßte Vanina ihre Wangen an die Fensterscheibe des Gemachs des Karbonaro.

      »Wenn ich mit ihm spreche, bin ich verloren!« sagte sie sich. »Nein! Ich darf das niemals wieder tun.«

      Nachdem sie diesen Entschluß gefaßt hatte, kam ihr wider willen die Freundschaft in den Sinn, die sie für den jungen Mann gefühlt, als sie ihn törichterweise noch für ein Weib gehalten hatte. »Erst habe ich mich ihm so zärtlich und zutraulich gezeigt, und jetzt meide ich ihn vollständig!« warf sie sich vor.

      In vernünftigen Augenblicken erschrak sie über den Wandel, der in ihrer Seele vorgegangen war. Seit sich Missirilli entdeckt hatte, war ihre ganze bisherige Gedankenwelt wie in Nebel verhüllt und in weite Ferne gerückt.

      Noch waren keine acht Tage verronnen, als Vanina, bleich und zaghaft, zusammen mit dem Arzt in das Gemach des Kranken trat. Sie verblieb nur ein paar flüchtige Augenblicke. Aber nach einigen Tagen erschien sie nochmals, wieder mit dem Arzte: aus Menschlichkeit. Und schließlich, als es Missirilli wieder viel besser ging und Vanina nicht mehr den Vorwand hatte, sich um sein Leben zu ängstigen, wagte sie eines Abends allein zu kommen.

      Als Missirilli sie erblickte, war er namenlos glücklich; aber er suchte seine Liebe zu verbergen. Um alles in der Welt wollte er die Manneswürde nicht verletzen. Vanina war mit schamrotem Gesicht zu ihm gegangen. Sie fürchtete, Liebesbeteuerungen zu hören. Um so mehr wunderte sie sich über die edle, demütige, fast zu wenig zärtliche Freundschaft, die er ihr erwies. Als sie von ihm schied, machte er keinen Versuch, sie zurückzuhalten.

      Ein paar Tage später kam Vanina abermals. Pietro verhielt sich genau wieder so. Er versicherte sie seiner verehrungsvollen Ehrerbietung und ewigen Dankbarkeit.

      Da Vanina auch nicht das geringste getan hatte, was den jungen Karbonaro hätte veranlassen können, seinen Gefühlen Zwang anzutun, so fragte sie sich: »Bin ich der allein liebende Teil?« Voll Bitternis empfand das bis dahin so stolze junge Mädchen, wie ungeheuerlich toll sie war. Sie heuchelte Frohsinn und sogar Gleichgültigkeit. Sie erschien seltener, brachte es indessen nicht über sich, den jungen Kranken gar nicht mehr zu besuchen.

      Missirilli war halb wahnsinnig vor Liebe, aber er vergaß weder seine niedere Herkunft noch das, was er sich selbst schuldig war. Er hatte sich fest vorgenommen, nur dann aus sich herauszugehen und seine Liebe zu verraten, wenn Vanina ihn acht Tage lang nicht besuchte.

      Der Hochmut der Prinzessin kämpfte den letzten Kampf. Schließlich sagte sie sich:

      »Wenn ich ihn besuche, so tue ich das meinetwegen, weil es mir Freude bereitet. Nie und nimmer werde ich ihm das Mitgefühl eingestehen, das er in mir erweckt hat.«

      Fortan verweilte sie länger und länger bei Missirilli, aber er sprach mit ihr, als ob ein Dutzend andrer Menschen dabei sei.

      Eines Abends, nachdem sie ihn den ganzen Tag über verwünscht und sich gelobt hatte, noch kälter und herber denn bisher gegen ihn zu sein, gestand sie ihm ihre Liebe. Bald hatte sie ihm nichts mehr zu versagen.

      Die Torheit war groß, aber Vanina war glückselig. Missirilli vergaß,