phorismen zur Lebensweisheit
Einleitung
Ich nehme den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten Sinne, nämlich in dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen, die Anleitung zu welcher auch Eudämonologie genannt werden könnte: sie wäre demnach die Anweisung zu einem glücklichen Dasein. Dieses nun wieder ließe sich allenfalls definieren als ein solches, welches, rein objektiv betrachtet, oder vielmehr (da es hier auf ein subjektives Urteil ankommt) bei kalter und reiflicher Überlegung, dem Nichtsein entschieden vorzuziehn wäre. Aus diesem Begriffe desselben folgt, daß wir daran hingen, seiner selbst wegen, nicht aber bloß aus Furcht vor dem Tode; und hieraus wieder, daß wir es von endloser Dauer sehn möchten. Ob nun das menschliche Leben dem Begriff eines solchen Daseins entspreche, oder auch nur entsprechen könne, ist eine Frage, welche bekanntlich meine Philosophie verneint; während die Eudämonologie die Bejahung derselben voraussetzt. Diese nämlich beruht eben auf dem angeborenen Irrtum, dessen Rüge das 49. Kapitel im 2. Bande meines Hauptwerks eröffnet. Um eine solche dennoch ausarbeiten zu können, habe ich daher gänzlich abgehn müssen von dem höheren, metaphysisch-ethischen Standpunkte, zu welchem meine eigentliche Philosophie hinleitet. Folglich beruht die ganze hier zu gebende Auseinandersetzung gewissermaßen auf einer Akkommodation, sofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen, empirischen Standpunkte bleibt und dessen Irrtum festhält. Demnach kann auch ihr Wert nur ein bedingter sein, da selbst das Wort Eudämonologie nur ein Euphemismus ist. – Ferner macht auch dieselbe keinen Anspruch auf Vollständigkeit; teils weil das Thema unerschöpflich ist; teils weil ich sonst das von andern bereits Gesagte hätte wiederholen müssen.
Als in ähnlicher Absicht, wie gegenwärtige Aphorismen, abgefaßt, ist mir nur das sehr lesenswerte Buch des Cardanus de utilitate ex adversis capienda erinnerlich, durch welches man also das hier Gegebene vervollständigen kann. Zwar hat auch Aristoteles dem 5. Kapitel des 1. Buches seiner Rhetorik eine kurze Eudämonologie eingeflochten: sie ist jedoch sehr nüchtern ausgefallen. Benutzt habe ich diese Vorgänger nicht; da Kompiliren nicht meine Sache ist; und um so weniger, als durch dasselbe die Einheit der Ansicht verloren geht, welche die Seele der Werke dieser Art ist. – Im allgemeinen haben freilich die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt, und die Toren, d. h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer dasselbe, nämlich das Gegenteil getan: und so wird es denn auch ferner bleiben. Darum sagt Voltaire: nous laisserons ce monde-ci aussi sot et aussi méchant que nous l'avons trouvé en y arrivant.
Kapitel I
Grundeinteilung
Aristoteles hat (Eth. Nicom. I, 8) die Güter des menschlichen Lebens in drei Klassen geteilt, – die äußeren, die der Seele und die des Leibes. Hievon nun nichts als die Dreizahl beibehaltend, sage ich, daß was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen läßt. Sie sind:
1. Was einer ist: also die Persönlichkeit, im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.
2. Was einer hat: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne.
3. Was einer vorstellt: unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung anderer ist, also eigentlich, wie er von ihnen vorgestellt wird. Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm, und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.
Die unter der ersten Rubrik zu betrachtenden Unterschiede sind solche, welche die Natur selbst zwischen Menschen gesetzt hat; woraus sich schon abnehmen läßt, daß der Einfluß derselben auf ihr Glück, oder Unglück, viel wesentlicher und durchgreifender sein werde, als was die bloß aus menschlichen Bestimmungen hervorgehenden, unter den zwei folgenden Rubriken angegebenen Verschiedenheiten herbeiführen. Zu den echten persönlichen Vorzügen, dem großen Geiste oder großen Herzen, verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der königlichen, des Reichtums u. dgl. wie die Theater-Könige zu den wirklichen. Schon Metrodorus, der erste Schüler Epikurs, hat ein Kapitel überschrieben: περι του μειζονα εἰναι την παρ’ ἡμας αἰτιαν προς εὐδαιμονιαν της ἐκ των πραγματων. (Majorem esse causam ad felicitatem eam, quae est ex nobis, eâ, quae ex rebus oritur. – Vgl. Clemens Alex. Strom. II, 21, p. 362 der Würzburger Ausgabe der opp. polem.) Und allerdings ist für das Wohlsein des Menschen, ja, für die ganze Weise seines Daseins, die Hauptsache offenbar das, was in ihm selbst besteht oder vergeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein inneres Behagen oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat seines Empfindens, Wollens und Denkens ist; während alles außerhalb Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluß hat. Daher affiziren dieselben äußern Vorgänge oder Verhältnisse jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer andern Welt. Denn nur mit seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es unmittelbar zu tun: die Außendinge haben nur, sofern sie diese veranlassen, Einfluß auf ihn. Die Welt, in der jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach der Verschiedenheit der Köpfe: dieser gemäß wird sie arm, schal und flach, oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen. Während z. B. mancher den andern beneidet um die interessanten Begebenheiten, die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben: denn dieselbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefaßt, auch nur eine schale Szene aus der Alltagswelt sein. Im höchsten Grade zeigt sich dies bei manchen Gedichten Goethes und Byrons, denen offenbar reale Vorgänge zum Grunde liegen: ein törichter Leser ist imstande, dabei den Dichter um die allerliebste Begebenheit zu beneiden, statt um die mächtige Phantasie, welche aus einem ziemlich alltäglichen Vorfall etwas so Großes und Schönes zu machen fähig war. Desgleichen sieht der Melancholikus eine Trauerspielszene, wo der Sanguinikus nur einen interessanten Konflikt und der Phlegmatikus etwas Unbedeutendes vor sich hat. Dies alles beruht darauf, daß jede Wirklichkeit, d. h. jede erfüllte Gegenwart, aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung wie Oxygen und Hydrogen im Wasser. Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver, ist daher, so gut wie im umgekehrten Fall, die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz andere: die schönste und beste objektive Hälfte bei stumpfer, schlechter subjektiver, gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und Gegenwart; gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter, oder im Reflex einer schlechten Camera obscura. Oder planer zu reden: Jeder steckt in seinem Bewußtsein wie in seiner Haut, und lebt unmittelbar nur in demselben: daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen. Auf der Bühne spielt einer den Fürsten, ein anderer den Rat, ein Dritter den Diener oder den Soldaten, oder den General usf. Aber diese Unterschiede sind bloß im Äußern vorhanden, im Innern, als Kern einer solchen Erscheinung, steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant, mit seiner Plage und Not. Im Leben ist es auch so. Die Unterschiede des Ranges und Reichtums geben jedem seine Rolle zu spielen; aber keineswegs entspricht dieser eine innere Verschiedenheit des Glücks und Behagens, sondern auch hier steckt in jedem derselbe arme Tropf, mit seiner Not und Plage, die wohl dem Stoffe nach bei jedem eine andere ist, aber der Form, d. h. dem eigentlichen Wesen nach, so ziemlich bei allen dieselbe; wenn auch mit Unterschieden des Grades, die sich aber keineswegs nach Stand und Reichtum, d. h. nach der Rolle richten. Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vorgeht, unmittelbar immer nur in seinem Bewußtsein da ist und für dieses vorgeht; so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewußtseins selbst zunächst das Wesentliche, und auf dieselbe kommt, in den meisten Fällen, mehr an, als auf die Gestalten, die darin sich darstellen. Alle Pracht und Genüsse, abgespiegelt im dumpfen Bewußtsein eines Tropfs, sind sehr arm gegen das Bewußtsein des Cervantes, als er in einem unbequemen Gefängnisse den Don Quijote schrieb. – Die objektive Hälfte der Gegenwart und Wirklichkeit steht in der Hand des Schicksals und ist demnach veränderlich: die subjektive sind wir selbst; daher sie im wesentlichen unveränderlich ist. Demgemäß trägt das Leben jedes Menschen, trotz aller Abwechselung von außen, durchgängig denselben Charakter und ist einer Reihe Variationen auf ein Thema zu vergleichen. Aus seiner Individualität kann keiner heraus. Und wie das Tier unter allen Verhältnissen, in die man es setzt, auf den engen Kreis beschränkt bleibt, den die Natur seinem Wesen unwiderruflich gezogen hat, weshalb z. B. unsere Bestrebungen, ein geliebtes Tier zu beglücken, eben wegen jener Grenzen seines