machte Joachim. "Leise doch. Ja, eine Zwergin. Und?"
"Nichts. Wir. hatten uns noch gar nicht darüber ausgesprochen."
Und dann träumte er weiter. Es war schon zehn Uhr gewesen, als er sich niedergelegt hatte. Eine Stunde verging. Es war eine gewöhnliche Stunde, nicht lang, nicht kurz. Als sie verflos-sen war, tönte ein Gong durch Haus und Garten, erst fern, dann näher, dann wieder fern.
"Frühstück", sagte Joachim, und man hörte, daß er aufstand.
Auch Hans Castorp beendete für diesmal die Liegekur und ging ins Zimmer, um sich ein wenig zurechtzumachen. Die Vet-tern trafen sich auf dem Korridor und gingen hinunter. Hans Castorp sagte:
"Nun, es lag sich ja ausgezeichnet. Was sind denn das für Stühle? Wenn es die hier zu kaufen gibt, dann nehme ich mir einen mit nach Hamburg, man liegt ja darauf wie im Himmel. Oder meinst du, daß Behrens sie eigens nach seinen Angaben hat anfertigen lassen?"
Joachim wußte es nicht. Sie legten ab und betraten zum zweiten Male den Speisesaal, wo die Mahlzeit schon wieder in vollem Gange war.
Es schimmerte weiß im Saale vor lauter Milch: an jedem Platz stand ein großes Glas, wohl ein halber Liter voll.
"Nein", sagte Hans Castorp, als er wieder an seinem Tischende zwischen der Nähterin und der Engländerin Platz genom-men und ergeben seine Serviette entfaltet hatte, obgleich er noch so schwer belastet vom ersten Frühstück war. "Nein", sagte er, "Gott steh mir bei, Milch kann ich überhaupt nicht trinken und am wenigsten jetzt. Ist nicht vielleicht Porter da?" Und er wandte sich zuerst höflich und zart an die Zwergin mit dieser Frage. Leider war keiner da. Aber sie versprach, Kulmbacher Hier zu bringen und brachte es auch. Es war dick, schwarz, braunschaumig und ersetzte den Porter aufs beste. Hans Castorp trank durstig davon aus einem hohen Halbliterglase. Er aß kal-ten Aufschnitt dazu auf Röstbrot. Wieder war Haferbrei aufge-stellt und wieder viel Butter und Obst. Er ließ wenigstens seine Augen darauf ruhen, da er nicht fähig war, sich davon zuzufüh-ren. Auch betrachtete er die Gästeschaft, – die Massen begannen sich für ihn zu teilen; Einzelpersonen traten hervor.
Sein eigener Tisch war komplett, bis auf den oberen Platz ihm gegenüber, welcher, wie er sich belehren ließ, der Doktor-platz war. Denn die Ärzte, wenn ihre Zeit es irgend erlaubte, beteiligten sich an den gemeinsamen Mahlzeiten und wechsel-ten dabei die Tische: an einem jeden war zu oberst ein solcher Doktorplatz freigehalten. Jetzt war keiner von beiden anwe-send; man sagte, sie seien bei einer Operation. Wieder kam der junge Mann mit dem Schnurrbart herein, senkte einmal das Kinn auf die Brust und setzte sich mit sorgenvoll-verschlossener Miene. Wieder saß die Hellblonde, Magere an ihrem Platze und löffelte Yoghurt, als ob dies ihre einzige Speise wäre. Ne-ben ihr saß diesmal eine kleine, muntere alte Dame, die in rus-sischer Zunge auf den stillen jungen Mann einredete, der sie sorgenvoll anblickte und nicht anders als mit Kopfnicken ant-wortete, wobei er jenes Gesicht machte, als habe er etwas Schlechtschmeckendes im Munde. Ihm gegenüber, an der ande-ren Seite der alten Dame, war ein weiteres junges Mädchen pla-ziert, – hübsch war sie, von blühender Gesichtsfarbe und hoher Brust, mit kastanienbraunem, angenehm wellig geordnetem Haar, runden braunen, kindlichen Augen und einem kleinen Rubin an ihrer schönen Hand. Sie lachte viel und sprach eben-falls Russisch, nur Russisch. Sie hieß Marusja, wie Hans Castorp hörte. Ferner bemerkte er beiläufig, daß Joachim mit strengem Ausdruck die Augen niederschlug, wenn sie lachte und sprach.
Settembrini erschien durch den Seiteneingang und schritt schnurrbartkräuselnd zu seinem Platze, der am Ende des Tisches gelegen war, der schräg vor demjenigen Hans Castorps stand. Seine Tischgenossen brachen in schallendes Lachen aus, als er sich niedersetzte; wahrscheinlich hatte er eine Bosheit gesagt. Auch die Mitglieder des "Vereins Halbe Lunge" erkannte Hans Castorp wieder. Hermine Kleefeld schob mit dummen Augen zu ihrem Tische dort drüben vor der einen Verandatür und be-grüßte den wulstlippigen Jüngling, der vorhin so unschicklich seine Jacke emporgerafft hatte. Die elfenbeinfarbene Levi saß neben der fetten und leberfleckigen Iltis unter Unbekannten an dem querstehenden Tische rechts von Hans Castorp.
"Da sind deine Nachbarn", sagte Joachim leise zu seinem Vetter, indem er sich vorneigte … Das Paar ging dicht an Hans Castorp vorbei zu dem letzten Tisch rechts, dem "Schlechten Russentisch" also, wo schon eine Familie mit einem häßlichen Knaben große Haufen Porridge verschlang. Der Mann war schmächtig gebaut und hatte graue und hohle Wangen. Er trug eine braune Lederjoppe und an den Füßen plumpe Filzstiefel mit Spangenverschluß. Seine Ehefrau, ebenfalls klein und zier-lich, in wippendem Federhut, trippelte auf winzigen, hochge-stöckelten Juchtenstiefelchen; eine unsaubere Boa aus Vogel-federn lag um ihren Hals. Hans Castorp betrachtete die beiden mit einer Rücksichtslosigkeit, die ihm sonst fremd war und die er selbst als brutal empfand; doch war es eben das Brutale daran, das ihm plötzlich ein gewisses Vergnügen verursachte. Seine Augen waren zugleich stumpf und zudringlich. Als in demsel-ben Augenblick die Glastür zur Linken zufiel, schmetternd und klirrend, wie beim ersten Frühstück, zuckte er nicht zusammen wie heute früh, sondern schnitt nur eine träge Grimasse; und als er den Kopf nach jener Seite wenden wollte, fand er, daß ihm dies allzu schwer falle und daß es die Mühe nicht lohne. So kam es, daß er auch diesmal nicht zu der Feststellung gelangte, wer mit der Tür denn so liederlich umgehe.
Die Sache war die, daß das Frühstücksbier, sonst nur von mä-ßig benebelnder Wirkung auf seine Natur, den jungen Mann heute vollständig betäubte und lähmte, – es zeitigte Folgen, als hätte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Seine Lider waren wie Blei so schwer, die Zunge gehorchte dem einfachen Gedanken nicht recht, als er aus Artigkeit mit der Engländerin zu plaudern versuchte; auch nur die Richtung des Blicks zu ver-ändern, erforderte große Selbstüberwindung, und hinzu kam, daß der abscheuliche Gesichtsbrand den gestrigen Grad nun wieder vollauf erreicht hatte: seine Wangen schienen ihm ge-dunsen vor Hitze, er atmete schwer, sein Herz pochte wie ein umwickelter Hammer, und wenn er unter all dem nicht sonder-lich litt, so war es deshalb, weil sein Kopf sich in einem Zustand befand, als habe er zwei oder drei Atemzüge von Chloroform getan. Daß Dr. Krokowski doch nun beim Frühstück erschien und an seiner Tafel, ihm gegenüber, Platz nahm, bemerkte er nur traumweise, obgleich der Doktor ihn wiederholentlich scharf ins Auge faßte, während er mit den Damen zu seiner Rechten russisch konversierte, – wobei die jungen Mädchen, näm-lich die blühende Marusja sowohl wie auch die magere Yoghurt-esserin, unterwürfig und schamhaft die Augen vor ihm nieder-schlugen. Übrigens hielt Hans Castorp sich redlich, wie sich von selbst versteht, schwieg, da seine Zunge sich widerspenstig zeigte, lieber still und handhabte Messer und Gabel sogar mit besonderem Anstand. Als sein Vetter ihm zunickte und sich erhob, stand er ebenfalls auf, verneigte sich blind gegen die Tischgenos-sen und ging bestimmten Schrittes hinter Joachim hinaus. "Wann ist denn wieder Liegekur?" fragte er, als sie das Haus verließen. "Das ist das Beste hier, soviel ich sehe. Ich wollte, ich läge schon wieder auf meinem vorzüglichen Stuhl. Gehen wir weit spazieren?"
Ein wort zuviel
«Nein», sagte Joachim, «weit darf ich ja gar nicht gehen. Um die-se Zeit gehe ich immer ein bißchen hinunter, durchs Dorf und bis Platz, wenn ich Zeit habe. Man sieht Läden und Leute und kauft ein, was man braucht. Man liegt vor Tische noch eine Stunde, und dann liegt man wieder bis vier Uhr, sei ganz unbesorgt."
Sie gingen im Sonnenschein die Anfahrt hinab und über-schritten den Wasserlauf und das schmale Geleise, die Bergge-stalten der rechten Tallehne vor Augen: das "Kleine Schiahorn", die "Grünen Türme" und den "Dorfberg", die Joachim bei Na-men nannte. Dort drüben, in einiger Höhe, lag der ummauerte Friedhof von Davos-Dorf, – auf diesen ebenfalls wies Joachim mit seinem Stocke hin. Und sie gewannen die Hauptstraße, die, um ein Stockwerk über die Talsohle erhöht, die terrassierte Leh-ne entlang führte.
Von einem Dorf konnte übrigens nicht gut die Rede sein; je-denfalls war nichts davon als der Name übrig. Der Kurort hatte es aufgezehrt, indem er sich immerfort gegen den Taleingang hin ausdehnte, und der Teil der gesamten Siedelung, welcher "Dorf" hieß, ging unmerklich und ohne Unterschied in den als "Davos Platz" bezeichneten über. Hotels und Pensionen, alle mit gedeckten Veranden, Balkons und Liegehallen reichlich ver-sehen, auch kleine Privathäuser, in denen Zimmer zu vermieten waren, lagen zu beiden Seiten; hier und da kamen Neubauten; manchmal setzte auch die Bebauung aus, und die Straße ge-währte den Blick in die offenen