da, indes der hereinstreichende Atem der schwer keuchenden Lokomotive seinen Umschlag mit Kohlenpar-tikeln verunreinigte.
Zwei Reisetage entfernen den Menschen – und gar den jun-gen, im Leben noch wenig fest wurzelnden Menschen – seiner Alltagswelt, all dem, was er seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten nannte, viel mehr, als er sich auf der Droschkenfahrt zum Bahnhof wohl träumen ließ. Der Raum, der sich drehend und fliehend zwischen ihn und seine Pflanzstätte wälzt, bewahrt Kräfte, die man gewöhnlich der Zeit vorbehalten glaubt; von Stunde zu Stunde stellt er innere Veränderungen her, die den von ihr bewirkten sehr ähnlich sind, aber sie in gewisser Weise übertreffen. Gleich ihr erzeugt er Vergessen; er tut es aber, in-dem er die Person des Menschen aus ihren Beziehungen löst und ihn in einen freien und ursprünglichen Zustand versetzt, – ja, selbst aus dem Pedanten und Pfahlbürger macht er im Hand-umdrehen etwas wie einen Vagabunden. Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür desto rascher.
Dergleichen erfuhr auch Hans Castorp. Er hatte nicht beabsichtigt, diese Reise sonderlich wichtig zu nehmen, sich inner-lich auf sie einzulassen. Seine Meinung vielmehr war gewesen, sie rasch abzutun, weil sie abgetan werden mußte, ganz als der-selbe zurückzukehren, als der er abgefahren war, und sein Leben genau dort wieder aufzunehmen, wo er es für einen Augenblick hatte liegen lassen müssen. Noch gestern war er völlig in dem gewohnten Gedankenkreise befangen gewesen, hatte sich mit dem jüngst Zurückliegenden, seinem Examen, und dem unmit-telbar Bevorstehenden, seinem Eintritt in die Praxis bei Tunder & Wilms (Schiffswerft, Maschinenfabrik und Kesselschmiede) beschäftigt und über die nächsten drei Wochen mit soviel Un-geduld hinweggeblickt, als seine Gemütsart nur immer zuließ. Jetzt aber war ihm doch, als ob die Umstände seine volle Auf-merksamkeit erforderten und als ob es nicht angehe, sie auf die leichte Achsel zu nehmen. Dieses Emporgehobenwerden in Regionen, wo er noch nie geatmet und wo, wie er wußte, völlig ungewohnte, eigentümlich dünne und spärliche Lebensbedingungen herrschten, – es fing an, ihn zu erregen, ihn mit einer gewissen Ängstlichkeit zu erfüllen. Heimat und Ordnung lagen nicht nur weit zurück, sie lagen hauptsächlich klaftertief unter ihm, und noch immer stieg er darüber hinaus. Schwebend zwischen ihnen und dem Unbekannten fragte er – sich, wie es ihm dort oben ergehen werde. Vielleicht war es unklug und unzu-träglich, daß er, geboren und gewohnt, nur ein paar Meter über dem Meeresspiegel zu atmen, sich plötzlich in diese extremen Gegenden befördern ließ, ohne wenigstens einige Tage an ei-nem Platz von mittlerer Lage verweilt zu haben? Er wünschte, am Ziel zu sein, denn einmal oben, dachte er, würde man leben wie überall und nicht so wie jetzt im Klimmen daran erinnert sein, in welchen unangemessenen Sphären man sich befand. Er sah hinaus: der Zug wand sich gebogen auf schmalem Paß; man sah die vorderen Wagen, sah die Maschine, die in ihrer Mühe braune, grüne und schwarze Rauchmassen ausstieß, die verflatterten. Wasser rauschten in der Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblöcken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe sich auf. Sie schlossen sich, neue Engpässe folgten, mit Schneeresten in ihren Schründen und Spalten. Es gab Aufent-halte an armseligen Bahnhofshäuschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verließ, was verwirrend wirkte, da man nicht mehr wußte, wie man fuhr und sich der Himmelsgegenden nicht länger entsann. Großartige Fernblicke in die heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges, in das man hinan – und hineinstrebte, eröffneten sich und gingen dem ehrfürchtigen Auge durch Pfadbiegungen wieder verloren. Hans Castorp bedachte, daß er die Zone der Laubbäume unter sich gelassen habe, auch die der Singvögel wohl, wenn ihm recht war, und dieser Gedanke des Aufhörens und der Verarmung bewirkte, daß er, angewandelt von einem leichten Schwindel und Übelbefinden, für zwei Sekunden die Augen mit der Hand bedeckte. Das ging vorüber. Er sah, daß der Aufstieg ein Ende genommen hatte, die Paßhöhe überwun-den war. Auf ebener Talsohle rollte der Zug nun bequemer da-hin.
Es war gegen acht Uhr, noch hielt sich der Tag. Ein See er-schien in landschaftlicher Ferne, seine Flut war grau, und schwarz stiegen Fichtenwälder neben seinen Ufern an den um-gebenden Höhen hinan, wurden dünn weiter oben, verloren sich und ließen nebelig-kahles Gestein zurück. Man hielt an ei-ner kleinen Station, es war Davos-Dorf, wie Hans Castorp draußen ausrufen hörte, er würde nun binnen kurzem am Ziele sein. Und plötzlich vernahm er neben sich Joachim Ziemßens Stimme, seines Vetters gemächliche Hamburger Stimme, die sagte: "Tag, du, nun steige nur aus"; und wie er hinaussah, stand unter seinem Fenster Joachim selbst auf dem Perron, in brau-nem Ulster, ganz ohne Kopfbedeckung und so gesund ausse-hend wie in seinem Leben noch nicht. Er lachte und sagte wie-der:
"Komm nur heraus, du, geniere dich nicht!"
"Ich bin aber noch nicht da", sagte Hans Castorp verdutzt und noch immer sitzend.
"Doch, du bist da. Dies ist das Dorf. Zum Sanatorium ist es näher von hier. Ich habe 'nen Wagen mit. Gib mal deine Sachen her."
Und lachend, verwirrt, in der Aufregung der Ankunft und des Wiedersehens reichte Hans Castorp ihm Handschuhe und Wintermantel, die Plaidrolle mit Stock und Schirm und schließ-lich auch "Ocean steamships" hinaus. Dann lief er über den en-gen Korridor und sprang auf den Bahnsteig zur eigentlichen und sozusagen nun erst persönlichen Begrüßung mit seinem Vetter, die sich ohne Überschwang, wie zwischen Leuten von kühlen und spröden Sitten, vollzog. Es ist sonderbar zu sagen, aber von jeher hatten sie es vermieden, einander beim Vorna-men zu nennen, einzig und allein aus Scheu vor zu großer Herzenswärme. Da sie sich aber doch nicht gut mit Nachnamen anreden konnten, so beschränkten sie sich auf das Du. Das war eingewurzelte Gewohnheit zwischen den Vettern.
Ein Mann in Livree, mit Tressenmütze, sah zu, wie sie einander – der junge Ziemßen in militärischer Haltung – rasch und ein bißchen verlegen die Hände schüttelten, und kam dann her-an, um sich Hans Castorps Gepäckschein auszubitten; denn er war der Concierge des Internationalen Sanatoriums "Berghof" und zeigte sich willens, den großen Koffer des Gastes vom Bahnhof "Platz" zu holen, indes die Herren direkt mit dem Wagen zum Abendbrot fuhren. Der Mann hinkte auffallend, und so war das erste, was Hans Castorp Joachim Ziemßen fragte:
"Ist das ein Kriegsveteran? Was hinkt er denn so?"
"Ja, danke!" erwiderte Joachim etwas bitter. "Ein Kriegsveteran! Der hat es im Knie – oder hatte es doch, denn dann hat er sich die Kniescheibe herausnehmen lassen."
Hans Castorp besann sich so rasch er konnte. "Ja, so!" sagte er, indem er im Gehen den Kopf hob und sich flüchtig um-blickte. "Du wirst mir aber doch nicht weismachen wollen, daß du noch so etwas hast? Du siehst ja aus, als ob du dein Portepee schon hättest und gerade aus dem Manöver kämst." Und er sah den Vetter von der Seite an.
Joachim war größer und breiter als er, ein Bild der Jugendkraft und wie für die Uniform geschaffen. Er war von dem sehr braunen Typus, den seine blonde Heimat nicht selten hervor-bringt, und seine ohnehin dunkle Gesichtshaut war durch Ver-brennung beinahe bronzefarben geworden. Mit seinen großen schwarzen Augen und dem dunklen Schnurrbärtchen über dem vollen, gutgeschnittenen Munde wäre er geradezu schön gewe-sen, wenn er nicht abstehende Ohren gehabt hätte. Sie waren sein einziger Kummer und Lebensschmerz gewesen bis zu ei-nem gewissen Zeitpunkt. Jetzt hatte er andere Sorgen. Hans Castorp fuhr fort:
"Du kommst doch gleich mit mir hinunter? Ich sehe wirklich kein Hindernis."
"Gleich mit dir?" fragte der Vetter und wandte ihm seine großen Augen zu, die immer sanft gewesen waren, in diesen fünf Monaten aber einen etwas müden, ja traurigen Ausdruck angenommen hatten. "Gleich wann?"
"Na, in drei Wochen."
"Ach so, du fährst wohl schon wieder nach Hause in deinen Gedanken", antwortete Joachim. "Nun, warte nur, du kommst ja eben erst an. Drei Wochen sind freilich fast nichts für uns hier oben, aber für dich, der du zu Besuch hier bist und über-haupt nur drei Wochen bleiben sollst, für dich ist es doch eine Menge Zeit. Erst akklimatisiere dich mal, das ist gar nicht so leicht, sollst du sehen. Und dann ist das Klima auch nicht das einzig Sonderbare bei uns. Du wirst hier mancherlei Neues sehen, paß auf. Und was du von mir sagst, das geht denn doch nicht so flott mit mir, du, 'in drei Wochen nach Haus', das sind so Ideen von unten. Ich bin ja wohl braun, aber das ist haupt-sächlich Schneeverbrennung und hat nicht viel zu bedeuten, wie Behrens