Томас Манн

Der Zauberberg. Volume 2


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Weh des Abschieds vom durch und durch Gewohnten ihn durch sein Zimmer trieb? – Von Marusja hier ganz zu schweigen.

      Aber die Freude überwog. Herz und Mund gingen dem gu-ten Joachim über davon; er sprach von sich, er ließ des Vetters Zukunft auf sich beruhen. Er sprach davon, wie neu und er-frischt alles sein werde, das Leben, er selbst, die Zeit – jeder Tag, jede Stunde. Solide Zeit werde er wieder haben, langsam gewichtige Jugendjahre. Er sprach von seiner Mutter, Hans Ca-storps Stieftante Ziemßen, die ebenso sanfte, schwarze Augen hatte, wie Joachim, und die dieser all die Bergzeit her nicht gesehen, da sie, hingehalten von Monat zu Monat, von Halbjahr zu Halbjahr gleich ihm, zu einem Besuche des Sohnes sich nie entschlossen hatte. Er sprach mit begeistertem Lächeln vom Fahneneid, den er nun baldigst ablegen würde – : in Gegenwart der Fahne wurde er unter feierlichen Umständen geleistet, ihr selbst, der Standarte wurde er zugeschworen. "Nanu?" fragte Hans Castorp. "Ernstlich? Der Stange? Dem Fetzen Tuch?" – Ja, allerdings; und bei der Artillerie dem Geschütz, symbolischer-weise. – Das seien ja schwärmerische Sitten, meinte der Zivilist, empfindsamfanatische, könne man sagen; wozu Joachim stolz und glücklich mit dem Kopf nickte.

      Er ging auf in Vorbereitungen, er beglich seine Schlußnota auf der Verwaltung, begann schon Tage vor dem selbstgesetzten Termin mit dem Kofferpacken. Sommer – und Winterzeug pack-te er ein und ließ den Pelzsack nebst den Kamelhaardecken vom Hausdiener in Sackleinen nähen: vielleicht, daß er sie im Ma-növer einmal gebrauchen konnte. Er fing an, Lebewohl zu sagen. Er machte Abschiedsvisite bei Naphta und Settembrini – allein, denn sein Vetter schloß sich nicht an bei diesem Gange und fragte auch nicht, was Settembrini zu Joachims bevorste-hender Abreise und Hans Castorps bevorstehender Nicht-Abreise gemeint und geäußert: ob er nun "Szieh, szieh" oder "Szo, szo" gesagt hatte, oder beides, oder "Poveretto", das mußte ihm gleichgültig bleiben.

      Dann kam der Vorabend der Abreise, wo Joachim alles zum letztenmal absolvierte, jede Mahlzeit, jede Liegekur, jeden Lust-wandel, und von den Ärzten, der Oberin Urlaub nahm. Und es tagte der Morgen selbst: heißäugig und mit kalten Händen kam Joachim zum Frühstück, denn er hatte die ganze Nacht nicht ge-schlafen, nahm auch kaum einen Bissen zu sich und schnellte, als die Zwergin meldete, das Gepäck sei aufgeschnallt, hastig vom Stuhl, um von den Tischgenossen zu scheiden. Frau Stöhr vergoß Tränen, die leicht fließenden, salzlosen Tränen der Un-gebildeten, beim Lebewohl und zeigte gleich darauf hinter Joachims Rücken der Lehrerin mit Kopfschütteln und gespreizt hin und her gedrehter Hand eine faule Miene voll überaus or-dinärer Zweifelsucht in Hinsicht auf Joachims Befugnis zur Ab-reise und auf sein Wohlergehen. Hans Castorp sah es, indem er im Stehen seine Tasse austrank, um dem Vetter auf dem Fuß zu folgen. Noch gab es Trinkgelder zu reichen, den amtlichen Ab-schiedsgruß eines Gesandten der Verwaltung im Vestibül zu er-widern. Wie immer standen Patienten bereit, der Abfahrt zuzu-sehen: Frau Iltis mit dem "Sterilett", die elfenbeinfarbene Levi, der ausschweifende Popow mit seiner Braut. Sie winkten mit Tüchern, während der Wagen, am Hinterrad gebremst, die An-fahrt hinabschurrte. Joachim hatte Rosen erhalten. Er trug einen Hut auf dem Kopf Hans Castorp nicht.

      Der Morgen war prächtig, der erste sonnige nach langer Trü-be. Das Schiahorn, die Grünen Türme, die Kuppe des Dorfber-ges standen unveränderlich wahrzeichenhaft vor der Bläue, und Joachims Augen ruhten darauf. Fast schade, meinte Hans Castorp, daß gerade zur Abreise so schönes Wetter geworden. Es läge Bosheit darin, und ein recht unwirtlicher Schlußeindruck erleichtere jede Trennung. Worauf Joachim: der Erleichterung bedürfe er nicht, und das sei vorzügliches Ausbildungswetter, er könne es drunten wohl brauchen. Sonst sprachen sie wenig. Wie alles lag für jeden von beiden und zwischen ihnen, gab es frei-lich nichts Rechtes zu sagen. Auch hatten sie vor sich den Hin-kenden auf dem Bock neben dem Kutscher.

      Hochsitzend, gestoßen auf den harten Kissen des Kabrioletts, hatten sie den Wasserlauf, das schmale Geleise zurückgelassen, fuhren sie hin auf der unregelmäßig bebauten, der Eisenbahn gleichlaufenden Straße und hielten auf steinigem Platz vorm Bahnhofsgebäude von "Dorf", das nicht viel mehr als ein Schuppen war. Hans Castorp erkannte alles mit Schrecken wie-der. Seit seiner Ankunft vor dreizehn Monaten, bei einfallender Dämmerung, hatte er die Station nicht wieder gesehen. "Hier bin ich ja angekommen", sagte er überflüssigerweise, und Joachim antwortete nur: "Tja, das bist du" und entlohnte den Kutscher.

      Der rührige Hinkende besorgte alles, den Fahrschein, das Gepäck: Sie standen beieinander auf dem Perron, am Miniaturzuge, neben dem kleinen, grau gepolsterten Wagenabteil, worin Joachim mit Mantel, Plaidrolle und Rosen einen Platz belegt hatte. "Na, dann schwöre du nur deinen schwärmerischen Eid!" sagte Hans Castorp, und Joachim erwiderte: "Wird gemacht." Was noch? Letzte Grüße trugen sie einander auf, Grüße an die dort unten, an die hier oben.

      Dann zeichnete Hans Castorp nur noch mit seinem Stock auf dem Asphalt. Als zum Einsteigen gerufen wurde, fuhr er auf, sah Joachim an und dieser ihn. Sie gaben einander die Hand. Hans Castorp lächelte unbestimmt; des andren Augen waren ernst und traurig dringlich. "Hans!" sagte er – allmächtiger Gott! hatte sich etwas so Peinliches schon je in der Welt ereignet? Er redete Hans Castorp mit Vornamen an! Nicht mit "Du" oder "Mensch", wie sie es ihrer Lebtag gehalten hatten, sondern aller Sittensprödigkeit zum Trotz und peinlichst überschwenglicher Weise mit Vornamen! "Hans" sagte er und drückte mit dringli-cher Angst dem Vetter die Hand, während dieser bemerken mußte, daß dem Übernächtigten, Reisefiebrigen, Erschütterten das Genick zitterte, wie ihm beim "Regieren" –"Hans", sagte er inständig, "komm bald nach!" Dann schwang er sich aufs Tritt-brett. Die Tür schlug zu, es pfiff, die Wagen stießen aneinander, die kleine Lokomotive zog an, der Zug entglitt. Der Reisende winkte durchs Fenster mit dem Hut, der Zurückbleibende mit der Hand. Zerwühlten Herzens stand er noch lange, allein. Dann ging er langsam den Weg zurück, den Joachim ihn vor Jahr und Tag geführt.

      Abgewiesener Angriff

      Das Rad schwang. Der Weiser rückte. Knabenkraut und Akelei waren verblüht, die wilde Nelke ebenfalls. Die tiefblauen Sterne des Enzian, die Herbstzeitlose, blaß und giftig, zeigten sich wieder im feuchten Grase, und über den Waldungen lag es röt-lich. Herbstnachtgleiche war vorüber, Allerseelen in Sicht und für geübtere Zeitverbraucher wohl auch der erste Advent, der kürzeste Tag und das Weihnachtsfest. Noch aber reihten sich schöne Oktobertage – Tage von der Art dessen, an dem die Vet-tern des Hofrats Ölgemälde besichtigt hatten.

      Seit Joachims Weggang saß Hans Castorp nicht mehr am Ti-sche der Stöhr, nicht mehr an demjenigen, von dem Doktor Blumenkohl weggestorben war, und an dem Marusja ihre un-begründete Heiterkeit im Apfelsinentüchlein erstickt hatte. Neue Gäste saßen jetzt dort, völlig fremde. Unser Freund aber hatte, zweieinhalb Monate tief in sein zweites Jahr eingerückt, von der Verwaltung einen anderen Platz zugewiesen bekom-men, an einem Nachbartisch, der schräg vor dem alten stand, weiter gegen die linke Verandatür, zwischen seinem ehemaligen und dem Guten Russentisch, kurzum am Tisch Settembrinis. Ja, an des Humanisten verwaistem Platze saß Hans Castorp jetzt, am Tischende wiederum, gegenüber dem Doktor-Sitz, der an jeder der sieben Tafeln dem Hofrat und seinem Famulus zum Hospitieren aufgespart blieb.

      Dort oben, links von dem medizinischen Präsidium, hockte auf mehreren Kissen der bucklige Amateur-Photograph aus Me-xiko, dessen Gesichtsausdruck vermöge sprachlicher Einsamkeit der eines Tauben war, und ihm zur Seite hatte das ältliche Fräu-lein aus Siebenbürgen ihren Platz, das, wie schon Herr Settem-brini geklagt hatte, das Interesse aller Welt für ihren Schwager in Anspruch nahm, obgleich niemand etwas von diesem Men-schen wußte, noch wissen wollte. Ein Stöckchen mit Tulasilber-krücke, dessen sie sich auch bei ihren Dienstpromenaden be-diente, quer im Nacken, sah man sie zu bestimmten Stunden des Tages an der Brüstung ihrer Balkonloge ihre tellerflache Brust in hygienischen Tiefatmungen dehnen. Ein tschechischer Mann saß ihr gegenüber, den man Herr Wenzel nannte, da niemand seinen Familiennamen auszusprechen verstand. Herr Set-tembrini hatte sich seinerzeit zuweilen darin versucht, die krau-se Konsonantenfolge hervorzustoßen, aus der dieser Name be-stand – gewiß nicht in ehrlichem Bemühen, sondern nur um die vornehme Hilflosigkeit seiner Latinität an dem wilden Lautge-strüpp heiter zu erproben. Obwohl feist wie ein Dachs und von einer selbst unter Denen hier oben erstaunlich sich hervortuen-den Eßlust, versicherte der Böhme seit vier Jahren, daß er ster-ben müsse. Bei der Abendgeselligkeit klimperte er zuweilen auf einer bebänderten Mandoline die Lieder seiner Heimat und er-zählte von seiner Zuckerrübenplantage, auf der lauter