Zeit für unsere Schicht.“ Er trank seinen Kaffee mit geschlossenen Augen und ein genussvolles Stöhnen entwich seinen Lippen.
„Es erinnert mich an zu Hause“, sagte er sanft. „Haben Sie jemanden, der auf Sie wartet, Renault?“
„Das habe ich“, antwortete der junge Mann. „Meine Claudette.“
„Claudette“, wiederholte Cicero. „Ein schöner Name. Verheiratet?“
„Nein“, antwortete Renault einfach.
„Es ist in unserem Berufsfeld wichtig, etwas zu haben, nach dem man sich sehnt“, sagte Cicero wehmütig. „Es gibt einem in der oft notwendigen Abgrenzung noch einen anderen Blickwinkel. Seit dreiunddreißig Jahren darf ich Phoebe meine Frau nennen. Meine Arbeit hat mich an Orte überall auf der ganzen Welt geführt, aber sie ist immer für mich da, wenn ich zurückkomme. Während ich weg bin, sehne ich mich, aber das ist es wert; jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, fühle ich mich wie neu verliebt. Wie man so sagt, Abwesenheit lässt die Liebe wachsen.“
Renault lächelte. „Ich hätte einen Virologen nicht für einen Romantiker gehalten“, sann er nach.
„Die zwei Dinge schließen einander nicht aus, mein Junge.“ Der Arzt runzelte leicht die Stirn. „Und doch … ich glaube nicht, dass es Claudette ist, die in Ihren Gedanken herumschwirrt. Sie sind ein nachdenklicher junger Mann, Renault. Mehr als einmal habe ich gesehen, wie Sie zu den Berggipfeln schauen, so, als suchten Sie dort in der Ferne nach Antworten.“
„Ich glaube, Sie haben Ihre wahre Berufung verfehlt, Doktor“, sagte Renault. „Sie hätten Soziologe werden sollen.“ Das Lächeln verschwand von seinen Lippen, als er hinzufügte: „Sie haben jedoch recht. Ich habe diesen Auftrag nicht nur angenommen, um an Ihrer Seite arbeiten zu können, sondern auch, weil ich mich einer Sache gewidmet habe … einer Sache, die auf Glauben beruht. Ich habe jedoch Angst davor, wohin mich dieser Glaube führen könnte.“
Cicero nickte wissend. „Wie ich schon gesagt habe, Abgrenzung ist in unserem Arbeitsumfeld oft notwendig. Man muss lernen, leidenschaftslos zu sein.“ Er legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. „Lassen Sie es sich von jemandem sagen, der schon viele Jahre Erfahrung damit hat. Glaube ist eine starke Motivation, so viel ist sicher, aber manchmal neigen Emotionen dazu, unser Urteilsvermögen und unseren Verstand zu benebeln.“
„Ich werde vorsichtig sein. Vielen Dank, Sir.“ Renault lächelte verlegen. „Cicero. Danke.“
Plötzlich knisterte das Funkgerät auf dem Tisch neben ihnen und unterbrach die beschauliche Stille unter dem Verdeck.
„Dr. Cicero“, sagte eine Frauenstimme mit irischem Akzent. Es war die Stimme von Dr. Bradlee, die sie von der nahegelegenen Ausgrabungsstätte aus anfunkte. „Wir haben etwas ausgegraben. Es wird Sie interessieren. Bringen Sie den Behälter mit. Over.“
„Wir kommen sofort“, sprach Dr. Cicero in das Funkgerät. „Over.“ Er lächelte Renault väterlich an. „Es sieht so aus, als würden wir früher zum Einsatz kommen als gedacht. Wir sollten unsere Schutzanzüge anziehen.“
Die beiden Männer stellten die noch dampfenden Kaffeebecher ab und eilten in den kugelsicheren Reinraum. Sie betraten das erste Vorzimmer, um die leuchtend gelben Dekontaminationsanzüge anzuziehen, die die Weltgesundheitsorganisation bereitgestellt hatte. Handschuhe und Plastikstiefel, welche an den Handgelenken und Knöcheln abgedichtet waren, wurden zuerst angezogen, bevor der Ganzkörperkittel, die Kapuze und zum Schluss die Maske und das Atemschutzgerät folgten.
Sie zogen sich schnell, aber fast schon ehrfürchtig still an, und nutzten die kurze Zwischenzeit nicht nur für die körperliche Transformation, sondern auch als mentale Vorbereitung, um sich nach ihrem angenehmen und beiläufigen Gespräch nun auf die nüchterne Denkweise, die für ihre Arbeit erforderlich war, einzulassen.
Renault mochte die Dekontaminierungsanzüge nicht. Sie verlangsamten seine Bewegung und machten die Arbeit mühsam. Aber sie waren absolut notwendig, um ihre Forschung durchführen zu können: einen der gefährlichsten Organismen, den die Menschheit kannte, zu lokalisieren und sicherzustellen.
Er und Cicero traten aus dem Vorraum und machten sich auf den Weg zum Ufer des Kolyma, ein langsam fließender, eisiger Fluss, der südlich der Berge und etwas östlich in Richtung Meer führte.
„Der Behälter“, sagte Renault plötzlich. „Ich hole ihn.“ Er eilte zurück zur Überdachung, um den Probenbehälter zu holen, ein rostfreier Stahlwürfel, der mit vier Verschlussbügeln verschlossen und auf allen sechs Seiten mit einem Warnsymbol für Biogefährdung versehen war. Er eilte zurück zu Cicero und die beiden machten sich auf den Weg zur Ausgrabungsstätte.
„Sie wissen, was nicht weit von hier passiert ist, nicht wahr?“, fragte Cicero durch seine Atemschutzmaske, während sie liefen.
„Ja.“ Renault hatte den Bericht gelesen. Vor fünf Monaten war ein zwölfjähriger Junge aus einem nahegelegenen Dorf krank geworden, nachdem er Wasser aus dem Kolyma geholt hatte. Zuerst wurde vermutet, dass der Fluss verseucht sei, aber als weitere Symptome auftraten, wurde das Bild bald deutlicher. Nachdem sie von der Erkrankung gehört hatten, wurden sofort Forscher der WHO mobilisiert und eine Untersuchung eingeleitet.
Der Junge hatte die Pocken. Genauer gesagt, erkrankte er an einem unbekannten Pockenvirus, der noch nie zuvor in der modernen Welt aufgetreten war.
Die Ermittlungen führten letztlich zu den Überresten eines Karibu-Rentiers in der Nähe des Flussufers. Nach eingehenden Tests wurde die Vorahnung bestätigt: Das Rentier war vor mehr als zweihundert Jahren gestorben und sein Körper war im Permafrost eingeschlossen gewesen. Die Krankheitserreger, die das Tier getötet hatten, froren mit ihm ein und lagen inaktiv unter dem Eis verborgen – bis vor fünf Monaten.
„Es ist eine einfache Kettenreaktion“, sagte Cicero. „Wenn die Gletscher schmelzen, steigen der Wasserstand und die Temperatur des Flusses. Und das wiederum taut die Lagen des Permafrosts auf. Wer weiß, welche Krankheiten sonst noch in diesem Eis lauern. Uralte Erregerstämme, wie wir sie noch nie zuvor gesehen haben … es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass einige davon vor die Entstehung der Menschheit zurückdatiert werden können.“ Die Stimme des Arztes klang angespannt, was nicht nur auf seiner Besorgnis basierte. Es klang ebenfalls eine gewisse Begeisterung darin mit. Dies war schließlich seine Lebensaufgabe.
„Ich habe gelesen, dass in 2016 durch das Schmelzen einer Eiskappe, Anthrax in einer Wasserversorgung gefunden wurde “, kommentierte Renault.
„Das stimmt. Ich wurde mit diesem Fall beauftragt. So wie auch mit dem Fall der spanischen Grippe, der in Alaska aufgetreten ist.“
„Was ist aus dem Jungen geworden?“, fragte der junge Franzose. „Der Pockenfall von vor fünf Monaten.“ Er wusste, dass der Junge, so wie auch die fünfzehn anderen infizierten Menschen aus seinem Dorf, unter Quarantäne gestellt worden waren, aber an dieser Stelle hatte die Berichterstattung geendet.
„Er ist gestorben“, sagte Cicero. In seiner Stimme lag keinerlei Emotion; nicht vergleichbar, wie wenn er von seiner Frau Phoebe sprach. Nach Jahrzehnten in seinem Berufsfeld hatte Cicero die subtile Kunst der innerlichen Abgrenzung gelernt. „Gemeinsam mit vier anderen. Es konnte dadurch allerdings ein Impfstoff gegen den Pockenstamm entwickelt werden, sodass ihr Tod nicht völlig umsonst war.“
„Trotzdem“, sagte Renault leise, „was für eine Schande.“
Die Ausgrabungsstätte befand sich weniger als einen Steinwurf vom Flussufer entfernt. Es handelte sich um ein zwanzig Quadratmeter großes Stück Tundra, das mit Metallpfählen und leuchtend gelbem Klebeband abgesperrt worden war. Es war die vierte Ausgrabungsstätte, die das Forschungsteam im Rahmen ihrer Ermittlungen bisher enthoben hatte. Vier weitere Forscher in Dekontaminierungsanzügen befanden sich in der abgesperrten Zone und sie alle lehnten sich über einen kleinen Bereich in der Nähe des Zentrums. Einer von ihnen sah die zwei Männer ankommen und eilte zu ihnen hinüber.
Es handelte sich um Dr. Bradlee, eine ausgeliehene Archäologin der Universität von Dublin.
„Cicero“, sagte sie. „Wir haben etwas gefunden.“
„Was