Kjersti Annesdatter-Skomsvold

Im szybciej idę, tym jestem mniejsza


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Wattens, 28. August

      In Schwaz gehe ich an einer ehemaligen Kaserne vorbei, in der Asylanten untergebracht sind. Die Realität hat mich wieder. Auf der Stiege zum Kaserneneingang sitzt ein kleines Kind, die Mutter kniet davor und bindet ihm die Schuhe. Zwei ganz junge Mädchen stehen daneben, halten sich die Hand und warten geduldig darauf, dass sie losgehen können. Wohin gehen sie? Wohin dürfen, können oder müssen sie gehen? Zwischen ihnen und mir ist der alte Kasernenzaun, oben mit Stacheldraht. Ich winke ihnen, die beiden Mädchen winken mit der jeweils freien Hand zaghaft zurück, mit der anderen halten sie sich weiterhin fest. Fremde beherbergen – ein Werk der Barmherzigkeit. Und ich denke mir: Es ist nicht schwer fortzugehen, wenn man weiß, wo man zuhause ist.

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      Die ehemalige Kaserne in Schwaz dient als Asylantenheim.

      Dass Gehen so spannend, so ergreifend, so befreiend sein kann, habe ich mir nie gedacht.

      Ich freu mich, dass mein Körper, außer an den ersten beiden Tagen, eigentlich recht brav mittut. So geht’s dahin, ich vergesse die Anzeichen eines möglichen Schmerzes und tauche irgendwie ein in die zarte Wildheit der Tiroler Weiden. Die vielen Rinder lassen mich zurückgehen in meine Kindheit auf unseren Bauernhof im Innviertel. Eine sehr angenehme Erinnerung mit vielen, vielen Geschichten, unaufgeregt, eigentlich alltäglich, aber tief im Herzen verwurzelt, weil genau diese Geschichten mich lehrten, dem Leben zu trauen und keine Angst vor dem Fremden zu haben.

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       Rinder auf der Weide: ein Blick in meine Kindheit, ein Verweilen in Vertrautheit

      Meistens war es im Frühjahr, da kamen immer wieder die Zigeuner, anfangs noch mit Pferdefuhrwerken, später mit Traktoren und Anhängern, gleich Planwägen – schließlich mit Wohnwägen. Ich hatte immer ein wenig Angst. Sie sollen doch kleine Kinder verschleppen, hatte mir einmal eine Tante gesagt. Aber mein Vater hieß sie herzlich willkommen auf unserem Hof. Und im Schutz meines Vaters wurden sie mir vertraut mit ihren fremden, von der Natur gezeichneten Gesichtern.

      Ich wurde nicht verschleppt, und wir hatten ganz besondere Nachmittage und Abende. Sie schliffen unsere Messer, löteten leckes Geschirr und abends musizierten und sangen sie. Bei uns am Hof wurde eigentlich nie gesungen. Nur am Heiligen Abend vor dem Christbaum eine schreckliche Strophe, hin und wieder auch zwei oder drei von Stille Nacht, heilige Nacht.

      Es tat weh, das hörte ich und schwieg, weil ich auch nicht imstande gewesen wäre, den Gesang auf eine hörerträgliche Ebene zu heben.

      Die Zigeuner aber sangen, sie sangen richtig, und sie sangen, auch wenn nicht Weihnachten war, und das war dann eigentlich wie Weihnachten, etwas Besonderes, etwas Erhellendes auf unserem Hof.

      Irgendwann aber blieben sie aus. Die Bettelleute kamen noch länger. Auch sie bekamen ein Quartier und aßen mit uns an einem Tisch. Manche durften auch in der Stube schlafen, auf dem Sofa, das Vater fast täglich, unmittelbar nach dem Mittagessen, für sich beanspruchte, so wie den Platz beim Kachelofen im Wirtshaus neben der Kirche. Ich hörte den Bettelleuten gerne zu. Die meisten waren begeisterte Erzähler. Und in ihren Erzählungen begannen Wirklichkeit und Vorstellung, Tatsache und Traum miteinander zu verschmelzen. In ihrer Begeisterung, wie sie erzählten, vergaßen sie ihre Mittellosigkeit. Sie waren bescheidene Vagabunden, angenehme Landstreicher, gefüllt mit Geschichten, mit denen sie ihr Leben zu meistern versuchten. Für die Bettler war unser Hof immer offen. Mein Vater mochte das Andere, er mochte die Minderheiten, er als einfacher Bauer liebte das Fremde.

      Unter seinem Bett hatte mein Vater viele Bücher in einer riesigen Schachtel gehortet. Er hatte die Bücher, wie er mir erzählte, allesamt als Jugendlicher gelesen, als er Schafe gehütet hatte.

      Ich weiß es nicht, ob er vom Lesen seine Größe und Weite für andere Kulturen und Bräuche, für das Fremde bekommen hat.

      Ich weiß es nicht, aber ich glaube es.

      Vor dem Fremden hat er sich nie gefürchtet, er hat es geschätzt. Und er war interessiert.

       Innsbruck, 29. August

      Gegen Mittag erreiche ich am zehnten Tag meines Pilgerweges Innsbruck, kann dem Regen gerade noch entkommen. Auf den dreihundert bisher gegangenen Kilometern ist die Sonne mein ständiger Begleiter gewesen, und ich weiß das zu schätzen. Je länger ich gehe, desto mehr bin ich von dem naturbelassenen Weg beeindruckt. Ein leichtes Gehen entlang tosender Flüsse und eines ruhigen Inns.

      Stundenlang bin ich entlang der Saalach gewandert, durch Schluchten, durch Wiesen und Wälder. In Lofer hat der Loferbach die Saalach abgelöst. Und höchster Respekt unseren Bauern gegenüber! Seit Schneegattern sah ich nur noch Wiesen, erst in Brixlegg kam das erste Maisfeld. Sehr viel ist manuell zu tun. Ist der Hang noch so steil, er wird gemäht und oft hilft die gesamte Familie, damit das gemähte Gras den Hang hinunter gerecht werden kann.

      In Innsbruck treffe ich einen guten Freund, Herbert, er zeigt mir den Dom. Genau dort begegne ich den Werken der Barmherzigkeit, besser gesagt einer Neuinterpretation des emeritierten Bischofs von Erfurt, Joachim Wanke, und seiner Diözese. Auf Schautafeln sind die Werke der Barmherzigkeit nach Wanke im Dom verteilt, sieben existentielle Sätze:

      Du gehörst dazu.

      Ich höre dir zu.

      Ich rede gut über dich.

      Ich gehe ein Stück mit dir.

      Ich teile mit dir.

      Ich besuche dich.

      Ich bete für dich.

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      Vill, eine Rokokokirche am Fuße des Patscherkofels. Meine Begleiter nehmen Platz. Ein besonderer Ort zum Verweilen.

      Diese Sätze sollten mich bis Rom begleiten. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber im Laufe des Weges wurden gerade diese Aussagen für mich immer wichtiger. Für unser Leben ganz Wesentliches wird in diesen sehr einfachen Sätzen gesagt: Es geht um Wertschätzung. Es geht um Menschlichkeit. Sie gehört zum Wesen des Menschseins. Unmenschlichkeit widerspricht dem Menschsein. Wohin also laufen wir in dieser Welt, wenn die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt?

      Ich gehe ein Stück mit dir. – Gerade in den ersten Tagen meines Weges war ich sehr froh, dass immer wieder Menschen, Freunde mit mir gegangen sind. Freilich, jeder muss selbst den Weg gehen, das Leben meistern, aber wenn dich hin und wieder jemand begleitet, dich ernst nimmt, mit dir geht, dann geht es sich ganz einfach leichter.

      Claudia, ein deutsches Mädchen, ist mit ihrer Freundin am Jakobsweg unterwegs. Claudia hat Auto gestoppt, weil sie mit ihrer Freundin nicht Schritt halten kann. Sie seien die besten Freundinnen, haben aber nie zuvor über ihr Tempo gesprochen. Claudia will zehn und ihre Freundin Lydia will dreißig Kilometer am Tag gehen. So geht sie zehn und macht den Rest per Anhalter. Abends sehen sie sich wieder.

      Unterschiedliche Geschwindigkeiten können einem ganz schön zusetzen. Unterschiedliche Geschwindigkeiten überfordern. Auf Dauer kann kein Mensch die Geschwindigkeit eines anderen, die nicht seine ist, gehen, noch weniger leben. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Es ist der Rhythmus, der im Leben gefunden werden will, mein Herzschlag, nach dem sich auch meine Schritte richten.

      Ich darf von niemandem verlangen, meine Schrittlänge und meine Schrittzahl zu gehen. Es muss möglich sein, dass alle ihre Geschwindigkeit gehen dürfen. Und es muss möglich sein, dass wir uns trotzdem treffen – vielleicht muss ich Auto stoppen, vielleicht auch warten. Beziehung heißt auch: immer wieder aufeinander warten, voller Sehnsucht oder voller Geduld warten.

      Ich habe begonnen, unterwegs viel zu beten, nicht weil ich ein fleißiger Beter werden will. Im Rosenkranz