dass er nach außen hin völlig normal erscheinen musste, und dass niemand erkennen sollte, was sich in seinem Inneren abspielte.
Das klappte jetzt schon seit Jahren – er gab sich Mühe. Er wurde sogar hin und wieder „langweilig“ genannt. Das gefiel ihm. Es bedeutete, dass er ein guter Schauspieler war. Er schaffte es, die Fassade eines ganz normalen Lebens aufrecht zu erhalten, worum ihn manch einer sogar beneidete. Er war mitten unter ihnen – bestens getarnt.
Aber jetzt spürte er das Verlangen in der Brust. Es wurde so stark, dass er es nur mit Mühe zügeln konnte.
Er schloss die Augen, atmete ein paarmal tief durch und ging in Gedanken noch einmal seine Anweisungen durch. Dann atmete er tief ein, hielt die Luft für ein paar Sekunden an, um daraufhin mit summender Stimme auszuatmen.
„Ommm…“
Dann öffnete er die Augen wieder. Er fühlte sich erleichtert. Die beiden Freundinnen waren inzwischen in die Clubhouse Avenue eingebogen und gingen in Richtung Wasser. Ashley ging alleine weiter. Gleich würde sie am Hundepark vorbei kommen.
Manchmal verbrachte sie ihre Nachmittage damit, den Hunden zuzuschauen, wie sie hinter Tennisbällen herjagten. Nicht heute. Heute ging sie zielstrebig daran vorbei, als hätte sie etwas Bestimmtes vor.
Wenn sie geahnt hätte, was auf sie zukam, hätte sie sich Zeit gelassen.
Er grinste über diesen Gedanken.
Er fand sie attraktiv. Jetzt fuhr er langsam hinter ihr her. Am Zebrastreifen wartete er absichtlich etwas länger und bewunderte ihren athletischen, von der Sonne gebräunten Körper. Sie trug einen knielangen, pinken Rock und ein hellblaues, figurbetontes Top.
Dann war es soweit.
Ein Gefühl der Ruhe umhüllte ihn. Er aktivierte die etwas seltsam aussehende E-Zigarette, die vor ihm auf der Ablage lag, und drückte vorsichtig auf das Gaspedal.
Er lenkte den Van direkt neben sie und rief durch das geöffnete Beifahrerfenster.
„Hey!“
Sie sah überrascht auf und blinzelte durch das Fenster, um zu erkennen, wer gerufen hatte.
„Ich bin’s“, sagte er locker und hielt den Van an. Dann öffnete er die Beifahrertür, damit sie ihn besser sehen konnte.
Sie kam etwas näher heran. Er beobachtete, wie sich ihr Gesicht veränderte, als sie ihn schließlich erkannte.
„Ach du bist es, sorry“, entschuldigte sie sich.
„Kein Problem“, sagte er und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette.
Sie sah das Gerät in seiner Hand genauer an.
„So eine habe ich noch nie gesehen.“
„Möchtest du probieren?“, bot er ihr möglichst beiläufig an.
Sie nickte und kam noch einen weiteren Schritt näher. Er beugte sich zu ihr hinüber, als würde er die Zigarette jeden Augenblick aus dem Mund nehmen und ihr hinhalten, aber als sie nur noch einige Zentimeter entfernt war, drückte er einen kleinen Knopf, und sofort sprühte ihr eine Giftmischung direkt ins Gesicht. Gleichzeitig hielt er sich selbst eine Schutzmaske über Mund und Nase.
Es ging so schnell und unauffällig, dass Ashley es nicht einmal bemerkte. Bevor sie reagieren konnte, schlossen sich ihre Augen und ihre Beine gaben nach.
Da sie sich bereits zu ihm gelehnt hatte, fiel sie ihm direkt in die Arme und er bugsierte sie sanft auf den Beifahrersitz. Für einen Beobachter hätte es aussehen können, als wäre sie ganz freiwillig in den Van eingestiegen.
Sein Herz klopfte wild, aber er musste jetzt ruhig bleiben. Er hatte es fast geschafft.
Er streckte den Arm aus, am Objekt vorbei, schloss die Beifahrertür und schnallte es an. Dann atmete er tief durch.
Er überprüfte schnell, ob die Luft rein war, und fuhr wieder an.
Bald reihte er sich unauffällig in den südkalifornischen Feierabendverkehr ein. Er war einer von vielen, die sich ihren Weg durch diesen Dschungel der Zivilisation bahnten.
KAPITEL EINS
Montag
Spätnachmittag
Detective Keri Locke wollte der Versuchung widerstehen. Als jüngste Ermittlerin bei der Einheit für vermisste Personen der Dienststelle Los Angeles Pacific erwartete musste sie härter arbeiten als alle anderen. Seit vier Jahren war sie dabei und sie hatte das Gefühl, dass sie sich als vierunddreißig Jahre junge Frau vor den anderen Beamten der LAPD beweisen musste. Sie konnte sich also nicht leisten tatenlos am Fenster herumzustehen.
Das Revier vibrierte förmlich vor Geschäftigkeit. Eine aufgebrachte, etwas ältere lateinamerikanische Frau saß an einem benachbarten Schreibtisch und zeigte einen Taschendiebstahl an. Ein paar Zimmer weiter wurde gerade ein Autodieb abgeführt. Es war ein ganz normaler Nachmittag auf dem für Keri inzwischen alltäglich gewordenen Arbeitsplatz. Dennoch empfand sie wieder diesen Drang, den sie einfach nicht ignorieren konnte.
Schließlich gab sie nach. Sie stand auf und ging zu dem Fenster, das direkt auf den Culver Boulevard blickte. Sie sah ihre Reflexion auf der Glasscheibe. Die grellen Strahlen der Nachmittagssonne ließen sie halb menschlich, halb übernatürlich aussehen.
Genauso fühlte sie sich auch. Sie wusste, dass sie objektiv betrachtet eine attraktive Frau war. Sie war groß und schlank und sie hatte dunkelblondes Haar. Ihre Figur hatte unter der Schwangerschaft kaum gelitten. Die Männer drehten sich immer noch nach ihr um.
Aber wenn man genau hinsah, konnte man sehen, dass ihre braunen Augen rot unterlaufen waren, dass sich auf ihrer Stirn die ersten Sorgenfalten abzeichneten und dass ihre Haut den blassen Farbton eines Gespensts angenommen hatte.
Wie jeden Tag trug sie eine schlichte Bluse, eine schwarze Hose und flache schwarze Schuhe, in denen sie auch rennen konnte. Ihre Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Das war ihre inoffizielle Uniform. Das einzige, was sich hin und wieder änderte, war die Farbe ihrer Bluse. Ihr Leben verstrich ohne richtig gelebt zu werden.
Keri nahm eine Bewegung auf der Straße wahr. Jetzt kamen sie.
Draußen auf dem Culver Boulevard war kaum jemand zu sehen. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein Gehsteig, der um diese Zeit meistens voller Menschen war. Heute war es aber mit 38 Grad unerbittlich heiß draußen. Nicht das geringste Lüftchen regte sich, obwohl sie keine fünf Meilen vom Meer entfernt waren. Die meisten Familien, die ihre Kinder normalerweise zu Fuß abholten, saßen heute in ihren klimatisierten Fahrzeugen. Nur eine Familie nicht.
Um genau 4 Uhr und 12 Minuten fuhr ein junges Mädchen, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, langsam auf ihrem Fahrrad diesen Weg entlang. Sie trug ein elegantes weißes Kleid. Ihre junge Mutter kam mit ein wenig Abstand in Jeans und T-Shirt hinterher. Den Rucksack des Mädchens trug sie auf der linken Schulter.
Keri wurde mulmig zumute. Sie wollte dagegen ankämpfen. Verstohlen sah sie sich um. Ob jemand sie beobachtete? Doch niemand beachtete Keri. Sie sah dem Mädchen und ihrer Mutter eifersüchtig und sehnsüchtig zu. Auch wenn sie sie Mädchen schon so oft gesehen hatte, konnte Keri immer noch nicht fassen, wie sehr das Mädchen ihrer kleinen Evie ähnelte: die blonden Locken, die grünen Augen, das leicht schiefe Grinsen.
Wie in Trance starrte Keri aus dem Fenster, auch als das Mädchen schon längst außer Sichtweite war.
Als Keri sich schließlich wieder ihrem Büro zuwandte, verließ die lateinamerikanische Frau gerade das Revier. Auch der Autodieb war nicht mehr da. Neue Übeltäter waren erschienen, in Handschellen und unter strenger Aufsicht. Sie warteten geduldig auf ihr weiteres Schicksal.
Keri warf einen Blick auf die Digitalanzeige der Kaffeemaschine. 4 Uhr 22.
Stand ich wirklich zehn Minuten lang an diesem Fenster? Es wird immer länger.
Mit