in der Schuld.
I
Der Wald
Gelegenheit zum Unglück beut die Hölle Freigebig dar.
Ein Actenband, den die Verfolgung einer allem Anschein nach weit verzweigten Gaunerbande seit einigen Wochen bis zur Unbequemlichkeit des pflichtmäßigen Lesers aufgeschwellt hatte, hielt mich an meinem Arbeitstische bis zur Abenddämmerung fest, die der unfreundlichen Herbstwitterung wegen früher einbrach, als mein Diener um diese Jahreszeit mir Licht zu bringen gewohnt war. Das Bedürfniß einer kleinen Erholung für den Geist und für die Augen bestimmte mich, diesen Zeitpunkt in meinem Armsessel abzuwarten. Durch das nahe Fenster und durch die sparsam fallenden Flocken des ersten Schnee’s hindurch schweifte mein müssiger Blick über die niedriger als das Amthaus gelegenen Dächer des Städtchens hinweg, bis an den Saum des eine Meile weit entfernten Scheidewaldes, der mein kleines Vaterland von dem benachbarten größeren Staate trennte, doch größtentheils noch zu Jenem gehörte. Dieser weitläuftige, finstere, über einige Bergrücken ausgebreitete und schluchtenreiche Forst war in den letzten Monaten der verschwiegene Zeuge mehrerer Anfälle auf Reisende gewesen, die eine bewaffnete Bande vermuthen ließen, obgleich noch kein Mord von ihr bekannt geworden war. Einen solchen zu entdecken, im Scheidewalde eine mit Wunden bedeckte Leiche aufheben zu können, war mein sehnlicher Wunsch, und – so paradox das auch klingen mag – ich darf ihn menschenfreundlich nennen. Denn ohne kräftige Maaßregeln war die öffentliche Sicherheit schwerlich wieder herzustellen, und der nächste Criminal-Beamte des Nachbarstaates hatte mein Gesuch, das zahlreiche und müssige Grenzmilitär desselben zur Reinigung der Waldung von gefährlichem Raubgesindel zu requiriren, mit der Ausflucht abgelehnt, daß er wegen der, nach gegenwärtiger Einrichtung »permanenten Exerzierzeit« es nicht wagen könnte, bei seiner Regierung auf eine solche Verwendung der Grenztruppen anzutragen, bevor nicht erwiesen worden, daß die muthmaßliche Gaunerbande den Scheidewald mit vergossenem Menschenblute besudelt habe. Daher meine Sehnsucht nach dem Corpus delicti eines Mordes, je kühner, grausamer und empörender, desto besser. Darum hatte ich die dicken Nachforschungs-Acten, und die darin befindlichen Mittheilungen anderer Gerichts- und Polizei-Stellen Blatt für Blatt durchgelesen; und jetzt, wo ich von der mehrstündigen Anstrengung des combinirenden Verstandes ausruhte, spielte sich unwillkührlich mein Wunsch aus dem Begehrungsvermögen in die Region der Einbildungskraft hinüber. Ich sah in dem finsteren Scheidewalde, den die zunehmende Dunkelheit nach und nach meinen Blicken entzog, Raubmörder mit Jagdbüchsen unter den Armen aus ihren Schluchten hervorschleichen; ich sah sie Wanderer mit Geldkatzen um den Leib aus dem Hinterhalte niederschießen, auf das Signal einer Diebespfeife sich vereinigen, schwerbepackte Reisewagen anhalten, die Postillione von den Pferden, die Bedienten von den Böcken, die Passagiere aus den Kutschen reißen, Hülfeschreienden Frauen den Mund mit Tüchern verstopfen, dieselben knebeln, an Bäume binden, mit Dolchstichen zu Tode kitzeln: mit einem Wort, ich sah die Spiegelberge Schiller’s alle Gräuel ihres Handwerkes in einer steigenden Progression von Frechheit und Grausamkeit verüben, ohne dabei etwas anderes zu empfinden, als was etwa ein Schriftsteller empfinden mag, der eben an der blutigsten Scene eines Räuber-Romanes, eines neuen Rinaldo Rinaldini, eines großen Banditen arbeitet.
Aus diesen ergötzlichen Träumen weckte mich endlich mein Diener, indem er, die angezündete Schirmlampe vor mich hinstellend, mir einen Fremden anmeldete, der in dringenden Amts-Angelegenheiten mich zu sprechen begehre. Er hatte sich Ferdinand Albus, Handlungsdiener aus B. . . genannt, und seine Frage nach mir mit so anständiger Sitte vorgebracht, daß der Diener es schicklich gefunden hatte, ihm den von Schnee bestäubten Mantel sammt Hut abzunehmen, und ihm das Besuchzimmer zu öffnen, obschon dasselbe weder geheitzt noch erleuchtet war. Ich befahl ihm diese Unschicklichkeit zu verbessern, den Fremden in mein Arbeitszimmer zu führen, und offene Lichter zu bringen. Er trat ein. Ein schöngewachsener junger Mann in hellfarbigem Reise-Ueberrocke, und soviel der Schatten meines Lampenschirmes unterscheiden ließ, von feinen und einnehmenden Gesichtszügen. Doch ungeachtet jenes Schattens erschien mir sein Antlitz so auffallend bleich, daß ich ihn für krank zu halten geneigt war. Mit höflicher Verbeugung ging ich ihm einige Schritte entgegen, und es kam mir seltsam vor, daß er, den mir mein Diener als einen »feinen und anständigen Herrn« angekündigt hatte, dieselbe nicht erwiederte, sondern aufrecht stehen blieb, wie ein Zerstreuter, der nicht weiß, wo er sich eben befindet, oder vergessen hat, was er daselbst wollte.
»Welchem Geschäfte, mein Herr, verdanke ich die Ehre?« – redete ich ihn an.
»Dem Entsetzlichsten, Herr Criminalrichter!« antwortete er mit einer heiseren Stimme, welche nur die Anstrengung vernehmlich zu machen schien: »Mein Bruder – mein leiblicher Bruder, der Kaufmann Heinrich Albus, ist in diesem Augenblicke – vor meinen Augen, an meiner Seite – von einem Räuber erschossen worden.«
»Wo?« frug ich rasch, und unfehlbar mit einem Tone, der ihn befremden mußte, da derselbe besser zu meiner obenerwähnten Sehnsucht nach einer Leichen-Aufhebung, als zu seinem Entsetzen passen mochte.
Er zögerte einige Sekunden mit der Antwort und sagte dann: »Im Scheidewalde, Herr Criminalrichter.«
Diese Antwort hatte ich erwartet, denn ich hatte sie gewünscht; aber jetzt fiel mir der Widerspruch auf, in welchem sie mit den Worten der Nachricht zu stehen schien. »In diesem Augenblicke, sagten Sie? Es ist eine starke Meile –«
»Oh mein Gott!« – rief er mit erschütterndem Tone aus: »was sind Augenblicke, was ist Zeit, was ist Ewigkeit in meinem Zustande? Hier – hier – (er drückte die Hand gegen die Stirn) hier steht das entsetzliche blutige Bild – ewige Gegenwart – keine Vergangenheit mehr – keine Zeit – kein Raum –«
Der Athem schien ihm zu gebrechen. Der Diener brachte die Lichter. »Fassen Sie sich, mein Herr,« sagte ich, indem ich ihn bei der Hand nahm, und von der Thür weg nach dem Sopha führte. Jetzt war das Gesicht erleuchtet. Der Ausdruck eines tiefen, ungeheuren Schmerzes sprach mich aus den thränenlosen Augen an. Der eben unterdrückte Ausbruch der Empfindung schien die Wangen mit einem matten Roth bedeckt zu haben, das bald wieder verschwand.
»Sie müssen verzeihen« – nahm er nach einiger Erholung wieder das Wort: »wenn ich nicht berichte, wie ich sollte vor dem Beamten, mit Klarheit und Ordnung. Was geschehen ist, was ich gesehen, was ich empfinde – es verwirrt sich auf meiner Zunge – ich weiß so wenig zu unterscheiden, ob ich recht spreche, als ich weiß, ob es das Rechte ist, was ich gethan habe nach dem gräßlichen Unglück.«
»Erlauben Sie mir, zu Ihrer Erleichterung, Ihnen den Hergang abzufragen, wie wir Untersuchungs-Männer gewohnt sind. Ihr Bruder fiel durch einen Schuß?«
»Ja.«
»An Ihrer Seite?«
»Er verschied in meinen Armen.«
»Sie reis’ten Beide allein? zu Fuß?«
»Ja. Mein Bruder hatte eine Zahlung in M. . . zu leisten. Er hoffte leichter davon zu kommen, wenn er es in Person thäte. Wir haben von B. . . aus nur 4 Stunden dahin auf dem Fußwege durch den Wald. Ich begleitete ihn.«
»Und hier wurden Sie angefallen? Von Einem oder von Mehreren?«
»Von Einem, so viel ich weiß.«
»So viel Sie wissen? Es war doch noch Tag?«
»Ja. Ich sah den Räuber nur im Fliehen. Wir waren gegen 100 Schritte auseinander gekommen, ein natürliches Bedürfniß hatte mich verweilt. Ich höre einen Wortwechsel, einen Hülferuf. Ich eile, ich bekomme ihn wieder zu Gesicht. Er ringt mit einem wilden Menschen. Ein Schuß fällt – oh Jesus! Jesus! mein Heiland!« – –
»Ihr Bruder war ohne Waffen?« frug ich nach einer Pause, die ich ihm zur Erholung gönnen zu müssen glaubte.
»Ein schwacher Stockdegen, sonst nichts.«
»Und Sie selbst;«
»Ein doppelläufiges Terzerol. Ach Gott, Gott! das war sein Tod!«
»Wie? Ihr Feuergewehr?«
»So fürcht’ ich. Ich riß