Ja, ja. Diese Hemdkragen; unternehmend und doch edel. Mich hat die Welt so weit heruntergebracht, daß ich, ohne vor Scham zu erröten, aussehe wie jedermann.
Der Schneider denkt, und ich ziehe seine Gedanken an; Teilung der Arbeit; das moderne Prinzip. Guten Abend, Risotto! ›Deine blauen Augen schauen immer noch zum Himmelslicht.‹ Ich sehe, du hast noch alle deine Ideale.«
Der Jüngling mit den sanften, blauen Augen, den Leopold so begrüßte, war ein Hüne von Gestalt, dem man deshalb das Beiwort »Riese« noch durch die vergrößernde italienische Endung »otto« verstärkt hatte; doch war dabei das minder ehrenvolle »Risotto« herausgekommen.
Risotto errötete nach seiner Gewohnheit; dann erwiderte er mit seiner zarten Stimme, die aus dem Munde eines solchen Riesen jedesmal überraschte: »Ich hoffe, du bist von unsern Idealen nicht abgefallen, – wenn du auch nach deinem Beruf nicht mehr zu uns gehörst.«
»Ich gehörte nie zu euch,« entgegnete Leopold. »Es war nur eine Grille von mir, ein Jahr lang Kunst zu naschen, eh ich mich ganz darauf warf, die Natur zu verdauen.«
»Wie du das wieder ausdrückst!« sagte Risotto, der abermals – diesmal aber vor Unwillen – errötete. »Ein ideales Streben, das du hattest, so zur ›Grille‹ zu machen!«
»Ich liebe die hohen Worte nicht,« antwortete Leopold mit etwas altkluger Kälte.
»Du hast Fridolin noch nicht gesehn?« fragte der kleine Frivolin.
»Nein. Ich erwartete ihn.«
»Du willst hier mit uns zu Abend essen?«
»Ich denke.«
»Wie ich höre,« fuhr Fridolin mit wichtiger werdendem Gesichtsausdruck fort, »bist du Darwinist.«
»Ich bin Darwinist.«
»Entwickelungstheorie?«
»Entwickelungstheorie.«
Leopold schwur bei sich im stillen, daß dieses Wort »Entwickelungstheorie« ungefähr alles sei, was Fridolin davon wisse; er unterdrückte aber diesmal die Ironie seiner Mundwinkel und schwieg.
»Entwickelungstheorie,« wiederholte Risotto mit einem Ton, in dem er einen schmerzlichen Vorwurf und ein sanftes Bedauern zusammenmischte. »Du hattest früher, mit uns, ein – wie soll ich sagen – eine höhere, eine philosophische Weltanschauung.«
»Damals war ich ein Narr!«
Auf diese kurze Antwort entstand eine Pause. Die fünf Jünger der Kunst sahen einander an und schwiegen. Nur Fridolin, indem er langsam, gedankenvoll vor sich hin nickte, schien sich die Zustimmung zu dieser Ketzerei von einem höheren Standpunkt aus vorzubehalten.
Die peinliche Stille dauerte nicht lange. Die Stimme der Frau Ritter, dann die Fridolins ward vom Vorplatz vernehmbar. »Ist mein Leopold da!« rief er mit seinem herzlichen Pathos aus. Gleich darauf trat er in die Thür, und glänzende Freude in den Augen, die beiden Arme etwas feierlich ausbreitend, blieb er stehen und sagte:
So steigst du denn, Erfüllung, schönste Tochter
Des größten Vaters, endlich zu mir nieder!
Erst nachdem er diese Verse aus der »Iphigenie« mit schönster Betonung gesprochen, ging er auf den ihm entgegentretenden Leopold zu, schloß ihn in die Arme und küßte ihn auf den Mund.
»Und somit heiße ich dich willkommen!« setzte er dann hinzu. »Hast du Hunger oder Durst, so sage der Tante Ritter deine Wünsche. Und nun zuerst zu den Geschäften, ehe ich mich den Freuden des Wiedersehens widme!«
Er wandte sich zu den Leibschwaben, faßte zwei von ihnen ins Auge und den, der ihm zunächst stand, am Arm. »Du siehst hier diese Kommode,« sagte er.
»Ja, die sehe ich.«
»Diese Kommode ist für Fräulein Ottilie Ritter, die erwartete Nichte, auszuräumen. Ihr Inhalt besteht aus —«
»Papieren, Scharteken und Westen.«
»Ganz recht. Unterrichteter junger Mann! Es wird von euch beiden zukünftigen Architekten erwartet, daß ihr die Entleerung dieses Gebäudes in der nächsten Viertelstunde bewerkstelligt, und mit architektonischem Scharfsinn andere Räumlichkeiten für die ausgeräumten Papiere, Scharteken und Westen ausfindig macht.
Dies sei der Beruf,
Wozu der Meister euch erschuf!
Denn wer sich seinen Hunger nicht verdient, verdient nicht, daß er ihn stille.«
Professor Fridolin sprach noch, als die jungen Männer schon vor der Kommode standen und knieten und ihre Schubladen leerten. Fridolin winkte nun Risotto zu sich heran (neben dem er selber klein und zierlich wurde); aber eh er ihn anredete, warf er noch einen freudigen, zärtlichen Blick auf Leopold und sagte: »Wie ähnlich er seiner Mutter geworden ist! – Mein Sohn, seit wann bist du hier in Berlin?«
»Seit heute nachmittag.«
»Du hattest vermutlich deiner Mutter versprochen, ihr sogleich zu schreiben?«
«Ja.
»Und hast es vermutlich noch nicht gethan?«
Leopold schüttelte den Kopf.
»Aber du wünschest nicht ohne den Segen deiner Mutter durch das Leben zu gehn?«
»Eigentlich nicht!« erwiderte Leopold.
»So verdiene dir den Segen deiner Mutter, und damit dein Abendessen!« fuhr Fridolin fort; bot dem Jüngling seinen Arm und führte ihn mit heiterer Galanterie an den großen Schreibtisch. »Hier ist ein Stuhl« (er drückte ihn sanft darauf nieder), »hier eine Feder« (er gab sie ihm in die Hand) »und hier eine Korrespondenzkarte; eine große Erfindung für dieses verkommene Zeitalter! – Schreib. Wir grüßen die Fürstin Mutter,« setzte er mit der Handbewegung eines Fürsten hinzu.
Leopold lächelte und schrieb.
»Nun zu Ihnen, Risotto!« fing der Professor wieder an. »Ich hatte Ihnen den ehrenvollen Auftrag erteilt, die erwartete Nichte am Bahnhof zu empfangen und unter dem Schutz Ihrer Endlosigkeit in dieses Haus zu geleiten. Warum sind Sie hier, mein Sohn, und nicht auf dem Bahnhof?«
»Der Zug kommt erst um Neun.«
»Wissen Sie das gewiß?«
»Ich glaube ganz bestimmt.«
»Was für eine wunderbare Bereicherung der Logik!« rief Fridolin aus; »ich glaube ganz bestimmt! Ich glaube, was ich nicht weiß; ›ich glaube ganz bestimmt‹ heißt also im gemeinen Deutsch: ich weiß ganz bestimmt nicht. Mann der körperlichen Endlosigkeit und der geistigen Begrenzung« (Risotto errötete stark), »nehmen Sie Ihren Hut! Ich fürchte ganz bestimmt, Sie kommen sonst zu spät. Verdienen Sie sich Ihr Abendessen, indem Sie es erwarten; und glauben Sie ganz bestimmt, daß man es Ihnen aufheben wird.«
»Gut, ich gehe auf der Stelle,« erwiderte Risotto; »obgleich ich wirklich ganz bestimmt – —«
Leopold stand auf. »Ich habe geschrieben,« sagte er mit Genugthuung.
»Soll ich die Postkarte mitnehmen?« fragte Risotto.
»Sie dürfen sie mitnehmen,« antwortete Fridolin.
Der Riese streckte einen seiner mächtigen Arme aus und ergriff die Postkarte; Fridolin trat aber hinzu und nahm sie ihm wieder aus der Hand. »Zuerst die Frage, mein Sohn! Was thun Sie, wenn man Ihnen eine Karte, einen Brief anvertraut, mit der Aufgabe, ihn in den nächsten Briefkasten zu stecken?«
»Ich – ich nehme ihn.«
»Und dann?«
»Dann steck' ich ihn in die Tasche.«
»Beklagenswerter Irrtum! Hat die Tasche ein Gedächtnis? Nein. Erinnert sie dich an sich? Nein. Bist du sicher, daß der Brief nicht eine Woche, einen Monat, ein Vierteljahr in dieser Tasche verweilen wird? Nein. Was wirst du also thun? Antworten Sie, junger Mann! – Er versinkt in tiefes Schweigen. – Sie werden den Brief in der Hand behalten, bis Sie ihn dem zuverlässigeren Schlund des Briefkastens überantworten.«
»Sehr