exandre
Olympia von Clèves
Erstes bis viertes Bändchen
I.
Avignon
Neapel sehen und dann sterben, sagt der Neapolitaner. Wer Sevilla nicht gesehen hat, hat nichts gesehen, sagt der Andalusier. Vor dem Thore von Avignon bleiben heißt vor dem Thore des Paradieses bleiben, sagt der Provencal.
Wenn man dem Geschichtsschreiber der päpstlichen Stadt glauben darf, ist Avignon in der Tat nicht nur die erste Stadt des Süden, sondern auch von Frankreich, sondern auch der Welt.
Man höre, was er darüber sagt:
»Avignon ist edel durch sein Altertum, angenehm durch seine Lage, herrlich durch seine Mauern, lachend durch die Fruchtbarkeit seines Bodens, reizend durch die Sanftheit seiner Einwohner, prächtig durch seine Paläste, schön durch seine großen Straßen, wunderbar durch den Bau seiner Brücke, reich durch seinen Handel und bekannt auf der ganzen Erde.«
Das ist hoffentlich ein schönes Lob! Nun! diesem Lobe, obgleich wir hundert Jahre nach dem, welcher es ausgesprochen hat, kommen, werden wir beinahe nichts benehmen, und sogar etwas beifügen.
In der Tat, für den Reisenden, der den Fluß herabfährt, welchem Tibull das Epitheton Celer, Ausonius das Preaceps und Florus das Impiger gegeben hat; für denjenigen, welcher von Montélimart an dem wärmeren Tone des Terrain, an der durchsichtigeren Luft, an den festeren Konturen der Gegenstände wahrzunehmen anfängt, daß er im Süden ist, für denjenigen, welcher endlich schauernd unter den mörderischen Bögen der Heiligen-Geist-Brücke passiert, von denen jeder seinen Namen hat, damit man im Augenblick, wo ein Schiff an einem derselben scheitert, weiß, an welchen Ort man Hilfe bringen soll; für den, der Roquemauré, wo Hannibal mit seinen vierzig Elefanten über die Rhone setzte, zu seiner Rechten, das Schloß Mornas, von welchem herab der Baron des Adrets eine ganze katholische Garnison springen ließ, zu seiner Linken lässt, bietet sich Avignon bei einer der Wendungen des Flusses plötzlich mit einer wahrhaft königlichen Pracht.
Allerdings ist das Einzige, was man von Avignon in dem Augenblick erschaut, wo man Avignon erschaut, sein riesiges Schloß, der Palast der Päpste, ein Gebäude aus dem vierzehnten Jahrhundert, das einzige vollkommene Muster der militärischen Architektur jener Zeit, erbaut aus dem Platze, wo sich einst der Tempel der Diana erhob, welcher der Stadt seinen Namen gegeben hat.
Wie bat nun ein Tempel der Diana seinen Namen dem zukünftigen Wohnsitze der Päpste geben können? Wir werden es sagen, wobei wir für uns die Nachsicht in Anspruch nehmen, mit der wir die Leserinnen sehr verschwenderisch gegen die Etymologen gesehen haben.
Ave Diana! gegrüßet seist du, Diana! sagte der Reisende, wenn er in der Ferne den Tempel der keuschen Göttin zur Zeit der schönen Latinität, im Jahrhundert vor Cicero. Virgil und Augustus, erblickte.
Ave Niana! fingen an die Schiffer im Jahrhundert vor Constantin, das heißt in einer Zeit zu sagen, wo das Idiom des Landes schon die Reinheit der lateinischen Sprache verdorben hatte.
Ave Nio, sagten die Soldaten der Grafen von Toulouse, von Provence, von Forcalquier: daher Avignon.
Man bemerke wohl, daß dies Geschichte ist: wir wären viel positiver, als wir es sind, wenn wir statt Geschichte Roman machten.
Man sieht also, daß zu allen Zeiten Avignon eine bevorzugte Stadt gewesen ist; überdies hat sie, eine der ersten, eine herrliche Brücke gehabt, eine Brücke erbaut 1177 von einem jungen Hirten Namens Bennezet, der, nachdem er Lämmer gehütet, Seelenhirte wurde und das Glück hatte, heilig gesprochen zu werden; freilich sind heute nur noch drei bis vier Bögen von dieser Brücke übrig, welche unter der Regierung Ludwig XIV, im Jahre der Gnade 1689, das heißt, ungefähr acht und fünfzig Jahre vor der Zeit, wo die Geschichte beginnt, die wir erzählen wollen, zerstört worden ist.
Aber vornehmlich gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts war Avignon glänzend anzuschauen. Philipp der Schöne, der Clemens V. und seinen Nachfolgern Wachen, ein Gefängnis und ein Asyl zu geben geglaubt hatte, hatte ihnen einen Hof, einen Palast und ein Königreich gegeben.
Es war in der Tat ein Hof, ein Palast und ein Königreich, was diese Königin des Luxus, der Üppigkeit und der Schwelgerei besaß, die mau Avignon nannte; sie hatte einen Gürtel von Mauern, welche um ihre prallen Flanken von Hernaudy von Herodia, dem Großmeister des Ordens der Johanniter von Jerusalem, geschlossen worden war; sie hatte ausschweifende Priester, die den Leib Christi mit Händen glühend vor Unkeuschheit berührten; sie hatte schöne Buhlerinnen, Schwestern, Nichten und Konkubinen der Päpste, welche die Diamanten aus der Tiara brachen, um sich Armspangen und Halsbänder daraus zu machen; sie hatte endlich Echos der Quelle von Baucluse, welche verliebt den süßen Namen Laura wiederholten und sie beim Klang der weichen, wollüstigen Lieder von Petrarca einwiegten.
Allerdings, als auf die Bitte der heiligen Brigitta von Schweden und der heiligen Catharina von Sienn Gregor IX Avignon im Jahre 1376 verließ und nach Rom abreiste, wo er am 17. Februar 1377 ankam, allerdings war Avignon, seines Glanzes beraubt, während es sein Wappen behielt, was drei goldene Schlüssel in rotem Feld, getragen von einem Adler mit dem Wahlspruch: Unguibus et rostris, sind, nur noch eine trauernde Witwe, ein einsamer Palast, ein leeres Grab. Die Päpste behielten wohl Avignon, dessen Ertrag sehr groß war, aber wie man ein Schloß behält, das man nicht mehr bewohnt: sie schickten wohl einen Legaten dahin, um ihre Stelle zu vertreten, doch der Legat ersetzte sie, wie der Verwalter den Herrn, wie die Nacht den Tag ersetzt.
Avignon blieb indessen die vorzugsweise religiöse Stadt, da man zur Zeit, wo diese Geschichte beginnt, daselbst noch 109 Chorherren, 41 Beneficiare, 350 Mönche und 350 Nonnen zählte, welche, nebst mehreren untergeordneten, dem Dienste der acht Kapitel beigegebenen Geistlichen eine Gesamtsumme von 900 für die Bedienung der Altäre bestimmten Personen, das heißt den achtundzwanzigsten Teil der Bevölkerung, bildeten.
Dabei besaß Avignon, nachdem es siebenmal sieben Päpste gehabt, welche siebenmal zehn Jahre regiert hatten, noch im Jahre 1727 siebenmal sieben für die Schönheit, die Annehmlichkeit und die Moralität einer Stadt wichtige Dinge.
Es hatte sieben Thore, sieben Paläste, sieben Kirchspiele, sieben Collegialkirchen, sieben Hospitäler, sieben Mannsklöster und sieben Nonnenklöster.
Was den Reiz betrifft, der für Avignon aus der von seinem Geschichtsschreiber Francis Nouguier gerühmten Sanftheit seiner Bewohner entspringt, so scheint uns dies weniger begründet als das Uebrige, und in diesem Punkte müssen wir dem Urteil des nationalen Schriftstellers entgegentreten und ihn an die ewigen Zwistigkeiten der weißen Büßer und der schwarzen Büßer erinnern, die einander bei jeder Gelegenheit umbringen und die Stadt in zwei stets mit derben Püffen verproviantierte Lager teilen.
Wohlverstanden, wir werden ihm gegenüber weder von den Schlächtereien der Glaciére im Jahre 1731, noch von der Ermordung des Marschall Brune im Jahr 1815 sprechen. Das sind zwei Ereignisse, welche der gute Francois Nouguier, so gelehrt er auch war, in der Zeit, wo er schrieb, nicht vorhersehen konnte.
Abgesehen jedoch von der, im neunzehnten Jahrhundert ein wenig bestreitbaren, reizenden Sanftheit, bot sich Avignon am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts unter dem Auge und dem Geiste des Reisenden sehr angenehmen Verhältnissen.
Außer den Dominicanern, die sich in dieser Stadt 1226 festgesetzt hatten, außer den Franciscanern, welche 1227 aufgenommen worden waren, außer seinen großen Augustinern, seinen großen Carmelitern, seinen Mathurinen, seinen Benedictinern, seinen Cölestinern, seinen Minimen, seinen Capucinern, seinen Recollecten, seinen Vätern von der christlichen Doctrine, seinen Carmelitern- Barfüßern, seinen Antoninern, seinen Augustinern, seinen Priestern des Oratorii und seinen Observanten hatte Avignon sein Collegium und sein Noviciat der Jesuiten, gegründet im Jahre 1587 durch Louis von Anezune.
Wer aber zu jener Zeit Jesuiten sagte, der sagte gelehrte Leute, liebenswürdige Leute, Leute, die an jeder Bewegung des Jahrhunderts Teil nahmen, mochte sie der Handel als Vermittler nach den entfernten, unbekannten Meeren fortführen, in die sich der Ganges und der Blaue Fluß, diese Rhonen Indiens und Chinas, ergießen; mochte sie der Eifer der Mission nach einer neuen Welt treiben und aus die Ebenen Brasiliens und in die Gebirge von Chili werfen: mochte ihnen, wo sie in Europa stationär waren, die Politik, ein Buch ohne Ende, ihre Blätter entrollen,