lag vier Treppen hoch, und die schlanke Anna war stolz über das große Stück Stadt, das sie von ihren Fenstern übersehen konnte.
Nun war das alles lange her. Die Stadt war mit jedem Zeigerdrehen gewachsen, und der Umsatz von Bomberlings Fabrik hatte Schritt mit ihr gehalten.
Man wohnte im ersten Stockwerk und war selbst ein Teil dieser großen Stadt geworden. An Kleidung sowohl, wie an der in Grenzen gehaltenen Wohlbeleibtheit war man von weitem als gut fundierter Bürger erkenntlich.
Anna Bomberling, die gnädige Frau, hatte nicht die geringste Ahnung mehr, daß man der goldenen Sonne zumuten durfte, rote, mit grüner Seife gewaschene Flanellhosen auf Bodenkammern oder ordinären Gartenzäunen zu trocknen.
Man weiß, was man sieht. Und in Bomberlings Heim, das sie jetzt bezogen hatten, als ihre Ehe in das dritte Jahrzehnt bog, erinnerte nichts mehr an eine Vergangenheit mit Schmiede und Tischlerwerkstatt.
Selbst die alten Familienbilder waren verschwunden, die bisher die Wände geschmückt hatten, in breiten schwarzen Rahmen, aus Leistenresten der Fabrik gezimmert.
Frau Bomberling hatte erklärt, daß sie die alten Gesichter nicht mehr sehen konnte, und Bomberling hatte sich, wie stets, ihrem Wunsche gefügt. Ihm war es gleich, was an der Wand hing. Nur die großen Kreidezeichnungen von seinen und Annas Eltern waren nicht auf den Boden gekommen, sondern schmückten die mit Bügeleisen verzierte Tapete des Plättzimmers.
Der Herr Dekoratör, der es übernommen hatte, die Wohnung mit Prima-Geschmack einzurichten, hatte erklärt, daß es jetzt die meisten Herrschaften so machten. Und er verstand seine Sache. Er nannte sich nicht umsonst »Spezialist für Wohnungskultur«, er war es auch.
Die Vorderräume von Bomberlings Wohnung waren unter seinen Händen ein Stück moderner Kultur geworden. In den feinen Duft des Modeparfüms, dem stets der würzige Soßenhauch eines großen Bratens diskret untermischt war, atmeten sie eine starke Vornehmheit aus.
Schon auf der Diele lag ein großer Perserteppich, der echt war.
Jeder Besucher, dem Frau Bomberling den Preis dieses Gegenstandes zuflüsterte, fuhr zusammen, als habe ihn jemand auf den kleinen Zeh getreten.
Dies bewies Frau Bomberling, daß sich Selbstüberwindung belohnt, denn eigentlich hatte sie den Perser nicht haben wollen. Sie wollte nicht so viel Geld ausgeben für einen alten Fetzen voll türkischen Ungeziefers. Sie meinte, Imitation wäre sauberer und billiger und mache denselben Effekt.
Aber der Spezialist für Geschmack hatte beschwörend seine Hände erhoben, an denen die meisten Fingerspitzen blau unterlaufen waren, weil auch der geschickteste Mensch nicht immer den Nagel auf den Kopf treffen kann. Mit Wehmut in den schmalen, rot geränderten Augen hatte er der gnädigen Frau erklärt, daß auf der Diele ein echter Orientale liegen müsse. In den hinteren Zimmern und den Räumen, die sie bewohnten, konnte man so viel Imitation haben, wie man wollte. Noblesse oblige.
Da hatte Frau Bomberling nachgegeben; denn sie baute dieses Heim nicht zum Vergnügen so vornehm auf. Sie hatte ihre Absichten damit.
Drei stilvolle Zimmer reihten sich der Diele an. Im Salon standen die Möbel aus einem alten englischen Schloß. Über der Erkerbrüstung des breiten Fensters hatte ein lateinisches Buch, im alten Einband aus Schweinsleder, stets aufgeklappt, dazuliegen. An der Wand hing ein englischer Kupferstich, worauf in einem wohlgepflegten Park ein lächelnder junger Mann bemüht war, einem lächelnden Mädchen aus guter Familie den Verlobungsring anzustecken. Jedesmal, wenn Frau Bomberling durch diesen feierlichen Raum ging, dessen Vorhänge aus gelber Seide immer geschlossen waren, lächelten das Bild und sie sich an.
Sonst hatte sie mancherlei Ärger mit diesem Salon. Die Mädchen konnten nicht begreifen, daß das lateinische Buch aufgeschlagen auf der feingeschnitzten Holzbrüstung zu liegen habe. Jedesmal, wenn sie Staub wischten, klappten sie es zu. Obwohl sie in den feinsten Familien gewesen.
Von diesem Salon aus kam man in das Teezimmer. Seine besondere Sehenswürdigkeit bestand in der Tassensammlung einer russischen Gräfin. Auf jeder emaillierten Schale war ein Zar oder mindestens ein Großfürst.
»Wenn ich nur wüßte, wozu wir das alles nötig haben,« hatte Bomberling gesagt, als man ihn das erstemal durch die fertige Pracht seines Heims führte. Frau Anna hatte nichts geantwortet. Sie tauschte nur wieder ein Lächeln mit dem kupfergestochenen Paar an der Wand.
An dem gläsernen Tassenschrank vorbei ging es zwischen zwei Kelims ins Musikzimmer. Hier beherrschte der große Flügel den Raum, an dem Babette Klavier und Gesang übte. Von einer Damastdecke hob sich wie eine große gediegene Bonbonniere der blanke Mahagonikasten ab, in dem Hermanns Geige ruhte.
Babette und Hermann waren, was musikalisches Gefühl betraf, nicht gerade erblich belastet zu nennen.
Bomberling gestand, so unnötig es Frau Anna auch fand, noch heute jedem offen ein, daß ihm Musik ein Geräusch wie jedes andere sei. Aber daß er einen Lokomotivenpfiff einem Geigensolo vorziehe, weil er kürzer sei.
Frau Anna dagegen wurde vor jedem Grammophon tief bewegt.
Außerdem wußte sie, daß Musik zum guten Ton gehöre. So spielte Babette Klavier und Hermann geigte.
Das Musikzimmer gehörte also eigentlich schon zu den gewohnten Räumen. Das sah man auch an den vielen Blumen, die dort in allen Vasen standen; denn Babette liebte die Blumen und kaufte sie, wo sie sie sah. Sie brachte alle Woche eine andere Lieblingsblume, die sie für die schönste der Welt erklärte, am Gürtel und am Jackett trug, und mit der sie alle bewohnten Zimmer zu schmücken versuchte.
Besonders das ihre. Zwischen den weiß lackierten Möbeln und den hellen Mullgardinen, dem blanken Spiegel, hinter dem die Photographien berühmter Männer steckten, und zwischen den vielen Blumen hatten die Hände des Geschmacksspezialisten nichts anrühren dürfen.
Ebenso wenig wie im Nebenzimmer, wo Hermann zwischen Büchern, Heften, Pfeifen, Tintenfässern, Rapieren und der Galerie schöner Frauenköpfe nur in einer von ihm selbst bestimmten Unordnung hausen wollte.
Eine lange Pfeife im Mund und eine Knallbonbonmütze auf dem dicken Blondhaar war er dem Spezialisten in der behäbigen Breitschultrigkeit, die er vom Vater übernommen hatte, auf der Schwelle seines Zimmers entgegengetreten und hatte ihm erklärt, daß vor dieser Tür seine Geschmackskultur aufzuhören habe. Hier herrsche schon die nächste Generation.
Und dann hatten Babette und er ein Lachduett von vielen Minuten angestimmt. Der Gehrock des Spezialisten verschwand mit langen Schritten, die lange Linie des Korridors herunter. Sein blanker Rücken spiegelte vornehm beherrschte Wut.
Aber merkwürdigerweise hatte auch Frau Bomberling ihn mit sanftem Lächeln gebeten, die Einrichtung des ehelichen Schlafzimmers ihr selbst zu überlassen.
Von Natur ist nichts schön, erst die Gewohnheit macht es dazu.
Es gibt so mancherlei liebgewordene Bequemlichkeit, die man nicht dem modernen Leben opfern möchte: einen einzigen Raum wollte sie haben, wo man sich wirklich zu Hause fühlte.
Vergeblich hatte der Kulturspezialist der gnädigen Frau vorgehalten, daß ein Betthimmel geradezu fabelhaft unmodern geworden sei, daß der dicke Engel, der aus vergoldetem Holz über den Betten schwebte, jeder Kunst entbehre und sogar anatomische Mängel aufweise.
Frau Bomberling war fest geblieben. Auch die Kultur muß ihre Grenzen haben.
Diesen Engel hatte ihr August eigenhändig geschnitzt und vergoldet. Sie hatte immer gefunden, daß Hermann ihm ähnlich sähe. –
Zwischen diesen Räumen mit eigner Atmosphäre und dem stummen Kulturgebiet auf der anderen Seite lag, als freundlicher Vermittler, das große Speisezimmer.
Es war der Raum, der am häufigsten alle Bomberlings vereint sah. Eichenmöbel und Lederstühle machten es behaglich. In einer Ecke tickte, fest und bestimmt, die große Standuhr. Am Fenster hüpfte ein Kanarienvogel im Bauer, den Hermann Napoleon getauft hatte, worauf Frau Bomberling stolz war.
Am Umgang erkennt man den Menschen.
Es lag Würde in ihrem Ton, wenn sie dem Mädchen sagte:
»Geben Sie Napoleon frisches Futter.«
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