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Das Geheimnis der Abtei
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Über mich selbst habe ich nur wenig und nichts Erhebliches zu sagen. Früh verwaist, wurde ich zu dem Berufe einer Erzieherin heran gebildet und begann, kaum siebzehn Jahre alt, diese Laufbahn, mit keinem sehr großen Schatze von Kenntnissen. Ich lernte jedoch durch den Unterricht selbst viel zu, so dass ich im Alter von fünfundzwanzig Jahren ziemlich festen Fuß in meinem Berufe hatte, und dass mir die besten Empfehlungen zur Seite standen. Ich habe deshalb von keinen traurigen Verhältnissen, keinem bitteren Kummer, keinen trüben Erinnerungen zu erzählen; mein Leben floss ruhig und gleichmäßig in der Ausübung der erwählten Pflichten hin, und die darin erreichbaren Erfolge waren das einzige Ziel meines bescheidenen Ehrgeizes. Nie litt ich Hunger, nie war ich der Gefahr ausgesetzt, Misshandlungen zu erdulden; wenn auch oft vernachlässigt, zuweilen sogar lieblos behandelt, genoss ich doch öfter Güte und Achtung, und war im Alter von zweiundfünfzig Jahren im Stande, von meinen Mühen auszuruhen und mich mit den Einkünften aus langjährigen Ersparnissen und aus einer kleinen Erbschaft in einer behaglichen Wohnung, nahe bei zwei früheren und mir teuer gebliebenen Zöglingen, niederzulassen. Auf den Wunsch der letzteren geschieht es, dass ich die seltsamen Ereignisse niederschreibe, welche sich in einer Familie zutrugen, der ich meine Dienste gewidmet hatte.
Der Schauplatz meiner grauenvollen Geschichte war ein unregelmäßiges Gebäude von großer Ausdehnung, dessen einzelne Teile aus verschiedenen Zeiten, und manche aus der früheren Klosterzeit herrührten. Es wurde »die graue Abtei« genannt, war ehemals ein Kapuzinerkloster gewesen und lag in einer einsamen Gegend von Cornwall, nahe an der Meeresküste. Meine Zöglinge waren zwei junge Mädchen, Zwillinge und die Töchter eines pensionierten Offiziers der ostindischen Armee, welcher ein junges, geliebtes Weib in Indien verloren hatte und mit zerrütteter Gesundheit und gebrochenem Lebensmute zurückgekommen war, um in England von seiner kleinen Pension zu leben, so gut er konnte. Die einzige ihm verwandte Person, für die er große Anhänglichkeit hegte, war eine Cousine, welche, in jugendlich blühender Schönheit stehend, einen mürrischen, gichtbrüchigen alten Baronet von bedeutendem Vermögen geheiratet hatte. Auf ihren Wusch ließ sich Capitain Sinclair mit seinen zwei kleinen Töchtern in einem Dorfe nieder, welches nahe bei der Abtei gelegen war, in der die Dame, Lady Deighton, mit ihrem unliebenswürdigen Gemahle zur Zeit seiner Rückkehr nach England wohnte.
Nachdem der Baronet die Prophezeiungen seiner Ärzte mehrmals dadurch Lügen gestraft hatte, dass er sich von heftigen gichtischen Anfällen in Kopf und Magen wieder erholte, und nachdem er von einem Schlagfluss getroffen worden war, der ihn ganz hilflos machte, wurde der alte Mann eines Morgens, ungefähr ein Jahr nach Capitain Sinclairs Niederlassung im Dorfe, tot in seinem Bett gefunden.
Lady Deighton's Wittum, welches ihr schlauer und habsüchtiger Vater der Tochter vor der Heirat gesichert hatte, war sehr beträchtlich. Mit dem Tode ihres Gemahls fielen ihr nämlich »die graue Abtei« ein prachtvolles Schloss in Hampshire, Fairly Park genannt, und viele tausend Pfund jährlicher Renten zu. Ein jeder, der die Dame kannte, nahm an, dass sie sich, sobald die Trauerzeit es erlaubte, nach der gefälligeren Residenz in Hampshire begeben und dort das in der ersten Zeit ihrer Ehe geführte vergnügungssüchtige Leben wieder beginnen werde; denn das Gerücht ging, dass sie von ihrem eifersüchtigen Gemahle nach der Abtei gelockt und dann gezwungen worden sei, dort zu bleiben. Der Schlaganfall des letzteren war ungefähr ein Jahr nach ihrer Ankunft dort erfolgt, und bis zum Augenblicke seines Todes hatte die unglückliche Frau unaufhörlich die Ausbrüche seiner Heftigkeit und seines Eigensinnes tragen müssen. Nunmehr war sie jedoch frei.
Ein prachtvolles Leichenbegängnis geleitete die Überreste des Baronets nach der Familiengruft in der Kirche des Dorfes, und seine schöne junge Witwe verweilte während des folgenden Trauerjahres in sittsamer Zurückgezogenheit in der Abtei. Aber an dem Tage nach Ablauf dieser Zeit schritt sie Arm in Arm mit ihrem Vetter Sinclair nach derselben Kirche, und kehrte als ehelich Verbundene mit ihm zurück. Ungefähr sieben Jahre nach diesem Ereignis trat ich in die Familie als Erzieherin der beiden Sinclairschen Zwillingstöchter, welche damals das zwölfte Jahr zurückgelegt hatten. Jüngere Kinder waren nicht vorhanden. Fairly Park blieb unbewohnt, denn Lady Deighton war im Lauf der Zeit sehr leidend und kränklich geworden und verließ die düsteren, früher so sehr gehassten Mauern der Abtei nicht wieder. Jeder mit Geld zu beschaffende Luxus umgab mich in meiner neuen Wohnung, mein Gehalt war hoch, meine Zimmer bequem und in einem neueren Teile des Gebäudes; gelegen; die Kinder zeigten sich fleißig und folgsam, und ihr Vater beobachtete stets die größte Artigkeit gegen mich. Er war ein liebenswürdiger, schwacher und etwas melancholischer Mann, der mir sehr dankbar war, dass ich ihm die Unannehmlichkeit ersparte, seine Kinder in die Schule schicken zu müssen. Viele Erzieherinnen waren vor mir dort gewesen, aber keine derselben hatte die Einsamkeit und Einförmigkeit des Lebens in der Abtei ertragen können; und als daher ein Monat nach dem anderen verstrich und der zärtliche Vater sah, dass ich völlig zufrieden war und ihn nie quälte, seine Einwilligung zu Ausflügen und Besuchen zu geben, die, obgleich angeblich zum Besten seiner Töchter, auch für mich eine angenehme Zerstreuung gewesen wären, so ließ er erkennen, dass er mir in Wahrheit dankbar war.
Nach meiner Ankunft sah ich mehrere Tage lang nur den Capitain Sinclair und die beiden Töchter, Ellen und Janet. Er äußerte einige unverständliche Entschuldigungen in Betreff seiner Frau, in denen die Worte Gesundheit, Nerven, Stimmung usw., ohne Angabe eines besonderen Leidens, gemurmelt wurden. Bald jedoch erfuhr ich von der freundlichen und verständigen Frau des Ortspfarrers, dass allgemein vermutet werde, sie habe während der langen und anstrengenden Pflege ihres verstorbenen Gemahls so sehr gelitten, dass sich jetzt zuweilen Geistesstörungen bei ihr zeigten, in denen sie die sonderbarsten Dinge begehe und seltsame Reden führe. Mrs. Dalton die erwähnte Dame, – die einzige, welche mich zuweilen besuchte – schilderte die in Lady Deightons Gesundheit und Lebensweise sich zeigenden Veränderungen als allmälig eingetreten. Einige Zeit nach dem Tode ihres Gemahles schien sie sich der Befreiung von den Ausbrüchen seiner rasenden Heftigkeit und von einem Leben sklavischer Unterwerfung zu freuen; sie besuchte bis zu ihrer zweiten Heirat regelmäßig die Kirche, ging spazieren und ritt oder fuhr aus, wie sie früher getan, allein wenige Monate später begann sie zu kränkeln und wurde sehr reizbar. Das Übel bestand in einer mit Nervenleiden verbundenen Abzehrung. Die grellsten Wechsel zeigten sich in ihrer Stimmung, so wie Schroffheit und Eigensinn in ihrem Benehmen. Obgleich sie alle Speisen mit einer wahren Gier genoss, wurde sie doch im Gesicht und am Körper immer magerer und widersetzte sich hartnäckig jedem Versuche einer Veränderung der Luft und des Aufenthaltes, welche ihr als das beste Heilmittel empfohlen worden war. Endlich jedoch ließ sie sich einmal bewegen, einen in der Umgegend gelegenen Badeort auf einige Wochen zu besuchen. Ein Haus wurde gemietet und elegant eingerichtet, und die Familie langte mit einem zahlreichen Gefolge von Dienstboten daselbst an; allein schon am folgenden Morgen weckte Capitain Sinclair vor Tagesanbruch den erstaunten Haushalt und ließ anspannen, und wenige Stunden später traf die ganze Gesellschaft in der Abtei wieder ein.
»Von jener Zeit an,« fügte meine Berichterstatterin hinzu, »stieg Lady Deighton nie wieder in einen Wagen; ihre Spaziergänge im Garten wurden immer seltener, und seit Jahresfrist hat sie ihre Zimmer, die ältesten und düstersten in der ganzen Abtei, nicht mehr verlassen. Ihr Gemahl bewohnt sie nicht mit ihr, denn nicht einmal eine Dienerin will sie in ihrem Gemache schlafen lassen, welches jeden Abend ängstlich von ihr verriegelt wird, als fürchtete sie ermordet zu werden.«
»Lässt sie niemand außer ihrer Familie zu sich?«
»Nein, selbst keinen Arzt. Seit Jahren ist sie in keiner Kirche gewesen und hat weder mit mir noch mit meinem Gatten gesprochen. Der arme Sinclair unterwirft sich ihrem Willen in jeder Beziehung. Sieben Jahre sind sie jetzt verheiratet, aber er hat gewiss noch keine sieben glücklichen Monate mit ihr verlebt.«
»Wie erträgt er seine Lage?«
»Wie Sie sehen. Er wälzt sich im Lehnsessel umher, oder geht spazieren und reitet mit den Kindern aus, raucht und liest in den zahllosen von London kommenden Zeitungen, und vertreibt sich auf diese Weise die Zeit.
»Hat er keine andere Gesellschaft?«
»Wenig oder keine. Alle Einladungen lehnt er regelmäßig ab, und in die Verwaltungsangelegenheiten der Grafschaft mischt er sich nie. Mit meinem Gatten kommt er dann und wann zusammen, und die Ärzte, welche früher seine Frau behandelten, besuchen ihn von Zeit zu Zeit, hören wie es ihr geht, und empfangen