Mann bei Kerzenlicht
Es war dunkel geworden, daß ich kaum noch lesen konnte. Zillah zündete die Kerzen an und zog die Fenstervorhänge zu. Tiefes Schweigen, welches einer gründlichen Enttäuschung zu folgen pflegt, herrschte im Zimmer.
»Wer mag er nur sein?« wiederholte Lucilla nun wohl zum hundertsten Male. »Und wieso kann Ihr Blick ihn betrübt haben? Sinnen Sie doch nach, Madame Pratolungo!«
Der letzte Satz in dem Artikel,,Exeter« präoccupirte mich ein wenig wegen des darin enthaltenen Wortes »Assisen«. Als Lucilla ihre Aufforderung, meine Devinitionsgabe anzustrengen, an mich richtete, hatte ich wieder eine andere Inspiration. Ich rieth auf der Stelle, der Fremde sei ein interessanter Verbrechen der entflohen sei, um der Verurtheilung durch die Assisen zu entgehen.
Die würdige alte Zillah sprang auf, überzeugt, daß ich mit meiner Annahme den Nagel aus den Kopf getroffen habe. »Gott steh’ uns bei!« rief die Alte. »Ich habe die Gartenthür nicht zugeriegelt!«
Sie rannte zum Zimmer hinaus, um uns, ehe es zu spät wäre, vor Raub und Mord zu schützen. Ich sah Lucilla an. Sie saß in ihrem Stuhle zurück gelehnt, mit einem verächtlichen Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. »Madame Pratolungo,« sagte sie, »eben haben Sie zum ersten Male, seit Sie hier sind etwas Thörichtes gesprochen.«
»Nicht so rasch, wenn ich bitten darf, liebes Fräulein,« erwiderte ich. »Sie haben erklärt, daß nichts über diesen Mann bekannt sei. Nun, damit meinen Sie, nichts, was Sie befriedigt. Er ist doch vermuthlich nicht vom Himmel gefallen? Der Zeitpunkt, in welchem er hierher gekommen ist, muß doch bekannt sein. Und ebenso, ob er allein oder in Gesellschaft hergekommen ist. Ferner, wie und wo er eine Wohnung im Dorfe gefunden hat. Bevor ich zugeben kann, daß ich mit meiner Vermuthung auf ganz falscher Fährte bin, muß ich hören, was die Leute in Dimchurch bis jetzt über diesen Mann in Erfahrung gebracht haben. Wie lange ist er schon hier?«
Lucilla schien sich anfänglich wenig für die rein praktische Auffassung der Frage, wie ich sie eben entwickelt hatte, zu interessieren.
»Er ist jetzt seit einer Woche hier,« warf sie nach lässig hin.
»Kam er, wie ich, über die Hügel her?«
»Ja.«
»Natürlich mit einem Führer?«
Bei dieser Frage richtete sich Lucilla plötzlich in ihrem Stuhle auf. »Mit seinem Bruder« antwortete sie. »Mit seinem Zwillingsbruder, Madame Pratolungo.
Jetzt richtete auch ich mich in meinem Stuhle auf .
Das Auftreten feines Zwillingsbruders in der Geschichte war schon an und für sich eine Verwickelung. Da waren also zwei entwichene Verbrecher statt eines!
»Wie fanden sie den Weg hierher? war meine nächste Frage.
»Das weiß niemand.«
»Wohin gingen sie zunächst, als sie herkamen?«
»In die »Gute Hand,« das kleine Wirthshaus im Dorfe. Der Wirth erzählte Zillah, die beiden Herren sähen sich merkwürdig ähnlich. Es sei unmöglich, sie von einander zu unterscheiden, die Aehnlichkeit sei selbst für Zwillinge erstaunlich. Sie kamen früh Morgens an, als die Schenkstube noch leer war und hatten eine lange vertrauliche Unterhaltung mit einander. Als diese vorüber war, klingelten sie dem Wirth und fragten ihn, ob er ein Schlafzimmer im Hause übrig habe. Sie werden selbst gesehen haben, daß die »Gute Hand« nur eine Bierschenke ist. Der Wirth hatte ein Zimmer übrig, ein elendes Stübchen, das kein Schlafzimmer für einen Gentleman war. Einer der Brüder miethete gleichwohl das Zimmer.«
»Und was wurde aus dem anderen Bruder?«
»Der ging noch an demselben Tage sehr ungern fort. Sie nahmen den zärtlichsten Abschied von einander. Der Bruder, welcher heute Abend mit uns gesprochen hat, bestand auf der Abreise des Anderen, sonst würde ihn dieser nicht verlassen haben. Sie vergossen beide Thränen —«.
»Sie haben noch etwas Schlimmeres gethan,« sagte die alte Zillah, die in diesem Augenblicke wieder ins Zimmer trat. »Ich habe unten alle Thüren und Fenster festgeschlossen. Er kann jetzt nicht hinein, liebes Kind, wenn er es auch versucht..
»Wieso haben sie denn noch etwas Schlimmeres gethan?« fragte ich.
»Sie haben sich geküßt,« sagte Zillah mit dem Ausdruck des tiefsten Widerwillens.
»Vielleicht sind es Fremde?« schlug ich vor. »Haben sie ihre Namen genannt?«
»Der Wirth fragte den Zurückbleibenden nach seinem Namen,« erwiderte Lucilla. »Er nannte sich »Dubourg«.
Diese Antwort bestärkte mich in meiner Vermuthung »Dubourg« ist in Frankreich ein so gewöhnlicher Name wie »Jones« oder »Thompson« in England. Gerade so ein Name, wie ihn ein Mann, der nicht gekannt sein will, sich bei uns beilegen würde. Sollte dieser Verbrecher ein Landsmann von mir sein? Nein, er hatte durchaus nicht mit fremdem Accent, sondern das reinste Englisch gesprochen; darüber konnte kein Zweifel obwalten. Und doch hatte er sich einen französischen Namen gegeben. Sollte er sich damit absichtlich einer Insulte gegen meine Nation schuldig gemacht haben? Ja, nicht damit zufrieden, sich mit unzähligen Verbrechen befleckt zu haben, hatte er dem Register seiner Scheußlichkeiten noch eine Insulte gegen meine Nation hinzugefügt?
»Nun?« nahm ich wieder auf. »Wir haben diesen unentdeckten Spitzbuben allein im Wirthshaus gelassen, ist er noch dort?«
»Wo denken Sie hin!« rief die alte Amme. »Er hat sich hier in der Gegend häuslich niedergelassen; er hat Browndown gemiethet!«
Ich wandte mich gegen Lucilla. »Browndown gehört doch jemandem,« sagte ich, indem ich es wagte, wieder eine Vermuthung auszusprechen. »Halt es denn jemand vermiethet, ohne sich nach dem Miether zu erkundigen?«
»Browndown gehört einem Herrn in Brighton,« antwortete Lucilla. »Und der Herr wurde wegen Auskunft über den Miether an ein wohlbekanntes Haus in London, eine der großen kaufmännischen Firmen in der City verwiesen. Daran knüpft sich der unerklärlichste Punkt des ganzen Geheimnisses. Der Chef des Londoner Hauses erklärte: »Ich kenne Herrn Dubourg seit meiner Kindheit. Er hat seine Gründe, zu wünschen, in der größten Zurückgezogenheit zu leben. Ich stehe dafür, daß er ein ehrenwerther Mann ist, dem Sie ruhig Ihr Haus vermiethen können. Mehr darf ich Ihnen nicht mittheilen.« Mein Vater kennt den Eigenthümer von Browndown und dieser hat ihm die erhaltene Auskunft wörtlich so mitgetheilt. Ist das nicht eigenthümlich? Am nächsten Tage wurde ihm das Haus auf sechs Monate vermiethet. Es ist elend meublirt. Herr Dubourg hat sich verschiedene Sachen von Brighton kommen lassen. Außer dem Mobiliar ist heute noch eine Kiste aus London in dem Hause angekommen die so fest vernagelt war, daß nach dem Zimmermann geschickt werden mußte, um sie zu öffnen. Der Zimmermann berichtete, daß die Kiste mit dünnen goldenen und silbernen Platten angefüllt sei und daß sich dabei noch ein Kasten mit eigenthümlichen Werkzeugen befände, deren Gebrauch dem Zimmermann völlig unbekannt sei. Herr Dubourg verschloß diese Dinge in ein an der Rückseite des Hauses gelegenes Zimmer und steckte den Schlüssel in die Tasche; Er schien vergnügt; er pfiff ein Lied und sagte: »Nun wird die Sache gehen!« Das wissen wir von der Wirthin in der »Guten Hand«. Sie kocht ihm das Essen und ihre Tochter hält ihm das Haus in Ordnung. Sie gehen Morgens zu ihm und kehren Abends wieder nach ihrem Hause zurück. Er hat weiter keine Bedienung bei sich. Nachts ist er ganz allein. Ist das nicht interessant? Ein Geheimmniß mitten im alltäglichen Leben, es intriguirt Jedermann.«
»Sie müssen hier sonderbare Leute sein, mein liebes Kind,« erwiderte ich, »in einem so einfachen Fall, wie diesem, etwas Geheimnißvolles zu finden«
»Einfach?« erwiderte Lucilla außer sich vor Erstaunen.
»Unzweifelhaft führt Alles, die Gold: und Silber Platten die eigenthümlichen Werkzeuge, das zurückgezogene Leben und das Nachhauseschicken der Dienstboten am Abend, zu demselben Schluß. Meine Vermuthung ist richtig; der Mann ist ein entlaufener Verbrecher und sein Verbrechen besteht in Falschmünzerei. Man ist ihm in Exeter auf die Spur gekommen er hat sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen gewußt und er will hier wieder von Frischem anfangen. Sie können ja thun, was Ihnen gefällt. Wenn ich einmal kleine Münze brauchen sollte, so würde ich mich