diesem Augenblick könnte man sich schon aufs feste Land versetzt glauben«, bemerkte Launce. »Das Schiff liegt ja so fest, wie ein Haus, und der Schaukeltisch, an dem wir frühstücken, steht so ruhig, wie Ihr Eßtisch zu Hause.«
»Es wird mir am Lande sonderbar vorkommen«, sagte jetzt das junge Mädchen, »mich in einem Zimmer aufzuhalten, das sich nie hin— und herbewegt, und an einem Tisch zu sitzen, der nie in einem Augenblick auf meine Knie herabsinkt und mir im nächsten bis ans Kinn steigt. Wie werde ich das Geräusch der Wellen an meinen Ohren und das Läuten der Glocke auf dem Verdeck entbehren, wenn ich am Lande des Nachts erwachen werde! Da wird man sich auch nicht mehr dafür interessieren können, wie der Wind weht, oder wie die Segel aufgesetzt sind; nicht mehr, wenn man seinen Weg verloren hat, die Sonne mit einem kleinen kupfernen Instrument, einem Stück Papier und einem Bleistift befragen; und nicht mehr so köstlich von der Stelle kommen, so oft der Wind einsetzt, ohne daß man nötig hätte, sich vorher lange mit der Überlegung zu plagen, wohin man gehen will. O, wie werde ich die liebe, veränderliche, unbeständige See entbehren! Und wie beklage ich es, kein Mann und kein Seemann zu sein!«
Das Alles sagte sie zu Launce, dem auf dem Schiff gewissermaßen nur geduldeten Gast, während sie sich bei keinem ihrer Worte, wenn auch nur zufällig, an den Eigentümer der Yacht wandte. Richard Turlingtons dicke Augenbrauen zogen sich mit einem unverkennbaren Ausdruck peinlichen Mißbehagens zusammen.
»Wenn diese Windstille anhält«, fuhr er zu Sir Joseph gewandt fort, »fürchte ich, Graybrooke, werde ich nicht im Stande sein, Euch bis Ende der Woche in den Hafen zurückzubringen, von dem wir ausgesegelt sind.«
»Immerhin, Richard«, antwortete der alte Herr resigniert. »Mir ist jede Zeit recht.«
»Jede Zeit innerhalb gewisser Grenzen, Joseph«, bemerkte Fräulein Lavinia, die offenbar fand, daß ihr Bruder in seinem Zugeständnis zu weit gehe. Sie sprach mit Sir Josephs liebenswürdigem Lächeln und Sir Josephs sanft gedämpfter Stimme. Zwei Zwillingskinder hätten einander nicht ähnlicher sein können.
Während diese wenigen Worte unter der den älteren Personen gewechselt wurden, nahm unter dem Kajütentisch eine vertrauliche Unterhaltung der jungen Leute ihren Fortgang. Nataliens mit einem zierlichen Pantoffel bekleideter Fuß rückte auf dem Teppich vorsichtig Zoll für Zoll vor, bis er Launces Stiefel berührte. Launce, der damit beschäftigt war, sein Frühstück zu verzehren, blickte sofort von seinem Teller auf und sah dann auch einer Berührung Nataliens eiligst wieder nieder. Nachdem Natalie sie vergewissert hatte, daß sie nicht beobachtet werde, nahm sie ihr Messer in die Hand.
Während sie sich mit großem Geschick den Anschein zu geben wußte, als spiele sie in Gedanken versunken mit dem Messer, fing sie an, mit demselben ein Stück Schinken, das am Rande ihres Tellers liegen geblieben war, in sechs kleine Stücke zu zerschneiden. Launces Auge folgte mit erwartungsvollen Seitenblicken der Zerteilung des Schinkens. Er wartete offenbar darauf, daß die einzelnen Stückchen Schinken in einer vorher zwischen seiner Nachbarin und ihm verabredeten Weise telegraphisch verwendet werden würden.
Inzwischen nahm auch die Unterhaltung der übrigen Personen am Frühstückstisch ihren Fortgang. In diesem Augenblick aber wandte sich Fräulein Lavinia an den jungen Mann. »Weißt du wohl, daß du mich diesen Morgen recht erschreckt hast? – Ich schlief bei offenem Fenster in meiner Kabine und wurde durch ein furchtbares Aufspritzen des Wassers aufgeweckt. Ich rief die Stewardeß – ich glaubte wirklich, daß jemand über Bord gefallen sei.«
Bei diesen Worten blickte Sir Joseph plötzlich auf; die Worte seiner Schwester hatten zufällig die Erinnerung an ein altes Erlebnis bei ihm erweckt.
»Was du von über Bord Fallen sagst«, fing er an, »erinnert mich an eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit —«
Hier fiel Launce ein, um sich zu entschuldigen.
»Es soll nicht wieder vorkommen, Fräulein Lavinia«, sagte er, »morgen früh will ich mich am ganzen Körper ölen und so leise wie eine Fischotter ins Wasser schlüpfen.«
»An eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit«, fuhr Sir Joseph fort, »die ich vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war, erlebte. Lavinia?«
Er hielt inne und sah seine Schwester fragend an. Fräulein Graybrooke nickte als Antwort mit dem Kopf und rückte sich auf ihrem Stuhle zurecht, wie wenn sie ihre Aufmerksamkeit in Voraussicht eines Appels an dieselbe im Voraus konzentrieren wolle. Für Leute, die Bruder und Schwester gut kannten, war diese Prozedur das Vorzeichen einer bevorstehenden Erzählung. Das Geschwisterpaar erzählte eine Geschichte immer gemeinschaftlich und zwar so, daß jedes von ihnen von jeder Tatsache immer eine von der des andern abweichende Auffassung hatte, indem die Schwester dem Bruder höflich widersprach, wenn die Erzählung von Sir Joseph, und der Bruder der Schwester höflich widersprach, wenn die Erzählung von Fräulein Lavinia begonnen wurde. Wenn sie von einander getrennt waren, und so des gewohnten Widerspruchs des andern entbehrten, konnten weder Bruder noch Schwester jemals den Versuch wagen, die einfachsten Tatsachen zu erzählen, ohne in ein unrettbares Stocken zu geraten.
»Es war fünf Jahre, bevor ich dich kennen lernte, Richard«, fuhr Sir Joseph fort.
»Sechs Jahre«, bemerkte Fräulein Graybrooke.
»Entschuldige, Lavinia.«
»Nein, Joseph, es steht in meinem Tagebuch.«
»Lassen wir den Punkt auf sich beruhen.« Das war die Formel, deren sich Sir Joseph regelmäßig bei solchen Angelegenheiten als eines Mittels bediente, seine Schwester sofort wieder zu versöhnen und einen frischen Anlauf für seine Erzählung zu gewinnen.
»Ich kreuzte vor der Mündung der Mersey in einem Liverpooler Lotsenboote. Ich hatte das Boot gemeinschaftlich mit einem Freunde gemietet, welcher früher in der Londoner Gesellschaft eine bekannte Persönlichkeit unter dem Spitznamen ‚Mahagony—Dobbs‘ gewesen war. Den Spitznamen hatte er der Farbe seines Backenbarts zu verdanken.«
Richard Turlingtons harte Finger trommelten ungeduldig auf dem Tisch. Er blickte nach Natalie hinüber.
In Ermanglung einer andern Beschäftigung legte sie ihre Stückchen Schinken auf ihrem Teller zu einem Muster zurecht. Launcelot Linzie sah anscheinend ganz gedankenlos nach dem Muster.
Sie Joseph fuhr in seiner Erzählung fort:
»Wir kreuzten zehn oder zwölf Meilen vor der Mündung der Mersey.«
»Seemeilen, Joseph.«
»Darauf kommt es nicht an, Lavinia.«
»Entschuldige, lieber Bruder, der verstorbene große, vortreffliche Doktor Johnson pflegte zu sagen, man müsse sich selbst in den geringfügigsten Dingen immer der größten Genauigkeit befleißigen.«
»Es waren gewöhnliche Meilen, Lavinia.«
»Es waren Seemeilen, Joseph.«
»Lassen wir den Punkt auf sich beruhen. Mahagony—Dobbs und ich waren eben unten in der Kajüte damit beschäftigt – «. Hier hielt Sir Joseph mit seinem liebenswürdigen Lächeln inne, um sich zu besinnen. Fräulein Lavinia wartete ihrerseits mit ihrem liebenswürdigen Lächeln auf die nächste Gelegenheit, ihren Bruder zu berichtigen. In demselben Augenblick legte Natalie ihr Messer nieder und berührte Launce leise unter dem Tisch. Auf ihrem Tisch waren sechs Stückchen Schinken in einer Weise zurecht gelegt, welche in der zwischen Beiden verabredeten originellen Zeichensprache bedeutete: »Ich muß dich allein nach dem Frühstück sprechen.«
Während Natalie wieder zu ihrem Messer griff, um neue Zeichen vorzubereiten, fuhr Sir Joseph in seiner Erzählung fort: »Wir waren beide unten in der Kajüte beschäftigt, unser Mittagessen zu beenden, als wir plötzlich durch den auf dem Verdeck erschallenden Ruf: ‚Ein Mann über Bord!‘ erschreckt wurden. Wir liefen beide die Kajütentreppe hinauf, natürlich in der Besorgnis, daß einer von unserer Mannschaft über Bord gefallen sei: eine Besorgnis, die, wie ich hinzufügen muß, von dem Steuermann, der den Ausruf getan hatte, geteilt wurde.«
Sir Joseph hielt wieder inne. Er näherte sich einem der spannendsten Momente seiner Erzählung und wollte diesen Moment natürlich gern möglichst ergreifend wiedergeben. Den Kopf auf die Seite geneigt,