ihr ja ziemlich lange ausgeritten, Lucie und du.«
»He, ich bin noch kein alter Mann, Chris!«
»Das habe ich doch auch nicht gemeint.«
Sie drängten ihn förmlich in den Schlosspark, wo Anna sofort zum Kern dessen kam, was ihr und
Christian auf der Seele lag. »Wir glauben, dass dieser Michael von Angern etwas mit Lorenz’ Verschwinden zu tun hat, Uli.«
Er blieb stehen. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass die beiden das Thema anschneiden würden, das ihn selbst derzeit so sehr beschäftigte. »Wie kommt ihr darauf?«
»Erstens: Er war bei der Hochzeit, obwohl ihn niemand kannte. Zweitens: Er hat sich an Lara herangemacht. Wir haben sie danach gefragt, weil wir ja dieses Foto in der Zeitung gesehen haben …«
»Und was hat sie gesagt?«, fragte Ulrich gespannt. Er selbst hatte sich vorgenommen, noch im Laufe des Tages ein Gespräch mit Lara zu führen. Bisher hatte er sich zurückgehalten, schließlich hielten sie sich alle privat auf Schloss Sternberg auf, und er hatte Lara soeben erst kennengelernt. Es war ihm unpassend erschienen, sie sofort mit Fragen zu belästigen. Aber nun waren ihm Anna und Christian offenbar bereits zuvorgekommen – und sie schienen sogar die richtigen Fragen gestellt zu haben. Einmal mehr bewunderte er ihren Scharfsinn und ihre gute Beobachtungsgabe.
»Sie glaubt auch, dass es einen Zusammenhang gibt, aber sie weiß nicht, welchen. Und weil du doch bei der Polizei bist, könntest du es vielleicht herausfinden.«
»Der Kerl ist schwer zu fassen«, murmelte Ulrich. »Wir haben doch bei meinem letzten Besuch schon über ihn gesprochen – man hat ihm bisher keine kriminellen Taten nachweisen können. Und ich finde einfach keine Erklärung dafür, wie ein Mensch wie dieser Angern es geschafft haben könnte, dass ein verliebter junger Mann vor dem Traualtar ›nein‹ statt ›ja‹ sagt.«
»Erpressung?«, fragte der kleine Fürst.
»Daran haben wir natürlich auch schon gedacht, aber euer Freund Lorenz scheint absolut nichts zu verbergen zu haben«, erklärte Ulrich. »Es sei denn, es ging nicht um ihn, sondern um jemanden, der ihm nahesteht. Seine Eltern beispielsweise.«
»Seine Eltern?«, fragte Anna verwundert. »Habt ihr da schon nachgeforscht?«
»Nein, es gab bisher keinen Grund. Niemand vermutet, dass Lorenz zu Hirtenberg entführt wurde oder einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel, Anna. Da kann man nicht einfach das Privatleben seiner Eltern ausspionieren.«
»Aber was habt ihr denn gegen diesen Michael von Angern in der Hand?«
»So gut wie nichts«, gestand Ulrich. »Wir verdächtigen ihn zahlreicher Verbrechen, aber uns fehlen die Beweise. Und übrigens dürfte ich mit euch gar nicht darüber reden.«
»Bleibt alles unter uns«, versicherte der kleine Fürst. »Du solltest noch mal mit Lara reden – bestimmt kann sie dir noch viel mehr erzählen als wir.«
»Das habe ich auch vor«, erklärte Ulrich. »Ihr habt mir sehr geholfen, wisst ihr das? Wollt ihr nicht später mal zur Kriminalpolizei gehen und dort die Aufklärungsrate erhöhen?«
Sie lachten, aber er sah, dass sie sich über seine Komplimente freuten.
»Wisst ihr was? Ich gehe zurück und mache mir ein paar Notizen, um meine Gedanken zu ordnen. Vielleicht ergibt sich heute ja noch eine Gelegenheit für mich, mit Frau von Kessel zu reden.«
»Spätestens heute Abend«, meinte Anna.
»Kommt ihr mit?«
Anna und Christian verständigten sich durch einen kurzen Blick. »Wir laufen noch ein bisschen, Uli, bis später.«
»Ja, bis später, und nochmals vie-len Dank für eure Unterstützung.«
Sie setzten also ihren Weg alleine fort. Nachdenklich murmelte der kleine Fürst: »Das mit Lorenz’ Eltern …, darauf wäre ich gar nicht gekommen. Ich habe immer nur darüber nachgedacht, was er selbst getan haben könnte, um erpressbar zu sein.«
Anna blieb stehen, er merkte es erst nach einigen Metern. Erstaunt drehte er sich um. »Was hast du denn?«
»Lass uns zurückgehen!«, sagte sie. »Vielleicht finden wir bei den alten Ansichtskarten etwas – da gibt es doch in einem der Schränke eine ganze Sammlung, es muss auch welche von Lorenz’ Eltern geben.«
»Bestimmt sogar, ich erinnere mich daran. Sie sind ja früher oft gereist.« Christian folgte seiner Cousine zwar, die jetzt eilig zum Schloss zurücklief, aber er fragte dennoch: »Und was versprichst du dir davon? Was sollen uns denn Ansichtskarten schon für Hinweise geben? Da steht doch nie etwas Wichtiges drauf. Immer nur: ›Das Wetter ist schön, uns geht es gut, leider sind die Ferien bald vorüber‹ – oder etwas in der Art.«
»Kann sein, dass es nichts bringt, aber wir finden ja sonst nirgends einen Hinweis.«
»Na schön, einen Versuch ist es wert.«
Sie betraten das Schloss über einen der Hintereingänge, um von niemandem aufgehalten zu werden und näherten sich zielstrebig dem alten Schrank, in dem alte Ansichtskarten, Fotos und andere Erinnerungsschätze aufbewahrt wurden. Jemand hatte sich einmal die Mühe gemacht, alles zu ordnen – die Ansichtskarten waren nach Jahren sortiert, was ihre Suche erheblich vereinfachte.
Es dauerte nicht lange, bis sie die erste Karte, geschrieben von Maria zu Hirtenberg, gefunden hatten. Der Inhalt war, wie von Christian befürchtet, eher nichtssagend. Sie suchten weiter, lasen mehrere Karten, alle von Maria geschrieben und von Moritz höchstens mit einer flüchtigen Unterschrift versehen, bis Christian ausrief: »Diese Karte hier ist anders. Sie ist vom letzten Jahr, Anna.«
»Und was steht drauf?«
Er las es ihr vor, langsam, jedes Wort betonend. Sie nahm ihm die Karte aus der Hand, las sie selbst noch einmal, dann sagte sie: »Das könnte es sein, oder?«
»Ja«, bestätigte der kleine Fürst, »das könnte es sein.«
*
»Ein Herr von Angern bittet darum, empfangen zu werden, Frau von Kessel«, sagte die Haushälterin der Familie. Mit gedämpfter Stimme setzte sie hinzu: »Das ist der von dem Foto in der Zeitung.«
»Ja, ich weiß, Frau Brede«, erwiderte Bettina nervös. Das recht intime Foto von Lara und einem Mann, der ihnen zwar namentlich, nicht aber persönlich bekannt war, hatte sie in helle Aufregung versetzt. Aber jeder Versuch, Lara zu kontaktieren, scheiterte daran, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hatte. »Wo ist mein Mann?«
»Hier bin ich«, erklärte Otto,
der in diesem Augenblick zur Tür hereinkam. »Was gibt’s denn, mein Schatz?«
Sie teilte ihm mit leiser Stimme mit, welcher Besucher vor der Tür stand, und er fällte eine rasche Entscheidung: »Führen Sie ihn herein, Frau Brede.«
Die Haushälterin nickte und zog sich zurück, während Bettina aufgeregt fragte: »Aber wieso …?«
»Vielleicht erfahren wir etwas Interessantes, Tina. Es scheint ja eine Verbindung zwischen Herrn von Angern und unserer Tochter zu geben, von der wir bisher nichts wussten. Und da sie uns offensichtlich nichts darüber erzählen will, tut er es ja vielleicht.«
»Aber du weißt, was er für einen Ruf hat …« Mehr konnte Bettina nicht sagen, denn in diesem Augenblick führte die Haushälterin den Besucher bereits herein.
Sie begrüßten Michael von Angern höflich, aber mit der gebotenen Distanz. Er war kein Mann, mit dem man zu tun haben wollte. Zwar gab es keine konkreten Vorwürfe gegen ihn, aber es waren allerlei Gerüchte im Umlauf, und ihm haftete der Ruch des Emporkömmlings an, der sich seine feinen Umgangsformen nur mühsam angeeignet hatte und bei jeder sich bietenden Gelegenheit sofort wieder aus der Rolle fiel. Sein sagenhafter Reichtum hatte ihm allerdings trotzdem verschiedene Türen geöffnet, und es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis er sich endgültig Zugang zur »feinen Gesellschaft« verschafft hatte.