weckte.
»Es geht ihr nicht gut. Sie ist gestern abend auf dem Nachhauseweg in das Gewitter geraten und kam klitschnaß zu Hause an«, erklärte er. Mit keinem Wort erwähnte er die Geschehnisse der Nacht, um sich nicht in lange Erzählungen zu verstricken.
»Die Arme! Kann ich zu ihr?« Vor lauter Mitleid stiegen Anneka die Tränen in die Augen.
»Mami braucht jetzt viel Ruhe, damit sie bald wieder gesund ist. Das verstehst du doch?«
Anneka nickte. »Aber heute nachmittag darf ich sie doch sehen, oder?« bat sie, und Daniel gab sich geschlagen.
»Aber nur ganz kurz. Ihr sollt euch ja auch nicht anstecken.«
»Was soll Anneka sich nicht anstecken?« ertönte es da von der Tür. Der kleine Jan hatte gelauscht und konnte jetzt seine Neugier nicht länger verbergen.
»Du sollst doch nicht heimlich lauschen, du kleiner Racker!« schmunzelte Daniel, während er Jan auffing, der freudig auf ihn zustürzte.
»Ich hab’ doch nur ein kleines bißchen gehört. Außerdem hab’ ich gar nichts verstanden.«
»Mami ist krank und muß im Bett bleiben. Wir dürfen sie nicht sehen«, erklärte Anneka traurig.
»Au Backe, dann geht es ihr aber schlecht!« entfuhr es Jan. Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Mutter einen Tag im Bett verbracht hatte.
»Aber sie hat mir doch versprochen, heute einen schönen Zopf zu flechten«, jammerte Dési, die jetzt auch in Annekas Zimmer erschien.
Daniel stöhnte auf, doch gerade im rechten Augenblick kam ihm Lenni zu Hilfe.
»Schluß jetzt mit den Diskussionen. Jan und Dési, kommt mit, dann wollen wir mal sehen, was ihr heute anzieht. Und das mit dem Zopf wird die alte Lenni doch auch noch hinkriegen«, schmunzelte sie.
Dési schmiegte sich liebevoll an sie.
»Du bist lieb, Lenni. Und für Mami male ich ein schönes Bild im Kindergarten, damit sie bald wieder gesund ist.«
Inzwischen hatten sich auch Felix und Danny fertig gemacht und kabbelten sich bereits am Frühstückstisch.
Endlich hatten alle Kinder gefrühstückt und ihre Pausenbrote eingepackt, die Lenni ihnen zurechtgemacht hatte. Dann wurde es Zeit zum Aufbruch. Als sich die Tür hinter ihnen schloß, seufzte Lenni tief. Manchmal war das Leben mit der Familie Norden sehr turbulent, doch für nichts auf der Welt würde sie es tauschen wollen. Nach ein paar Minuten Erholung machte sie sich an die Arbeit. Sie deckte den Tisch ab und machte dann ein Tablett mit Kräutertee, Honig und Zwieback für Fee zurecht, das sie behutsam ans Bett der schlafenden Kranken stellte.
*
Als Marlene Gordon an diesem Morgen in der Klinik in ihrem Einzelzimmer erwachte, fühlte sie eine schreckliche Leere in sich. Sie hatte das Kind, um das sich in den letzten Wochen all ihre Gedanken gedreht hatten, letztendlich doch verloren und wußte nicht, wie sie diese Lücke jemals wieder schließen sollte. Sie schrak zusammen, als es leise an ihre Tür klopfte.
»Ja, bitte?« antwortete sie matt und ihr Mann kam mit einem großen Strauß roter Rosen herein.
»Leni, Liebling. Wie geht es dir?« fragte er und zog sich einen Stuhl heran.
Er hatte diese Situation schon so oft erlebt, doch noch nie war ihm seine Frau so deprimiert erschienen.
»Wir werden niemals ein Kind haben«, antwortete sie leise und blickte aus dem Fenster.
»Das darfst du nicht sagen. Vielleicht bekommen wir noch eine Chance.« Sascha versuchte, seiner Stimme einen optimistischen Klang zu geben.
»So lange habe ich noch nie ein Kind behalten und es trotzdem verloren. Ich habe nicht mehr die Kraft, das noch einmal durchzumachen.«
Sascha wußte, daß sie recht hatte, doch er wollte sie um jeden Preis aufmuntern. Seine eigene Verzweiflung über den Verlust war groß genug, doch Marlenes Trauer machte ihm fast noch mehr zu schaffen.
»Wir werden eine Lösung finden. Vielleicht machen wir eine lange Reise, um Abstand zu gewinnen. Und dann adoptieren wir ein kleines armes Kind aus dem Ausland.« Über die Möglichkeit einer Adoption hatten die beiden schon oft gesprochen und sich auch schon erkundigt, doch waren sie von den Behörden als zu alt abgelehnt worden.
»Ich will kein Kind kaufen, Sascha. Es gibt so wenige seriöse Kindervermittlungen. Niemals könnte ich den Gedanken ertragen, daß einer Mutter ihr Kind gestohlen wird, nur damit es bei uns aufwachsen kann. Kinder sind keine Ware.«
»Ich bin derselben Meinung wie du, Leni!« Sanft streichelte er ihre Hand. Obwohl sie schon seit fünfzehn Jahren verheiratet waren, verband sie eine zärtliche Liebe. »Aber was sollen wir tun?«
»Wir werden uns mit dem Gedanken anfreunden müssen, keine Kinder zu haben.«
»Und keine Enkelkinder. Unser Leben wird weitergehen, wir werden älter werden und sterben und keinen wird es kümmern«, beendete Sascha ihren Satz voll Bitterkeit. Überrascht sah Marlene auf. Keine Sekunde hatte sie bisher an die Gefühle ihres Mannes gedacht.
»Fällt es dir auch so schwer wie mir?« fragte sie leise.
Mit Tränen in den Augen nickte er und legte den Kopf in ihren Schoß. Lange streichelte sie über sein Haar. Hans-Georg Leitner klopfte und betrat das Zimmer. Gerührt stand er in der Tür und betrachtete das Bild, das sich ihm bot. Weder Marlene noch Sascha hatten den Arzt bemerkt, so sehr waren sie mit sich und ihrem Schmerz beschäftigt. Schließlich räusperte sich Schorsch, und Marlene blickte überrascht auf.
»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Leitner. Wir haben Sie gar nicht bemerkt.« Verlegen erhob sich Sascha Gordon und reichte dem Arzt die Hand.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut, daß ich Ihnen nicht helfen konnte.«
»Das brauchen Sie doch nicht. Sie haben so viele Jahre mit uns gehofft und gelitten. Dafür möchten wir Ihnen danken«, sagte Marlene leise und streckte ihm die Hände entgegen. Schorsch ergriff sie und stand einen Moment stumm vor ihr. Schließlich drückte er ihre Hände aufmunternd und ließ sie dann los. Ein Gedanke war ihm gerade durch den Kopf geschossen, der ihn merkwürdig bewegte, doch wagte er noch nicht, ihn zu diesem Zeitpunkt zu äußern. Zuerst mußte er genau darüber nachdenken und den Rat von Daniel Norden einholen.
Marlene hatte seine Erregung bemerkt und sah ihn erwartungsvoll an.
»Müssen Sie uns noch etwas sagen, Herr Dr. Leitner?«
Auch Sascha blickte interessiert auf.
»Haben Sie womöglich schon Untersuchungsergebnisse?«
»Nein, nein, das dauert sicher noch zwei Wochen«, beeilte sich Schorsch zu sagen. »Fühlen Sie sich wohl in Ihrem Einzelzimmer, oder hätten Sie gern Gesellschaft?« wechselte er dann schnell das Thema, bevor einer der beiden weitere Fragen stellen konnte.
»Vielleicht würde dir eine Zimmergenossin guttun«, griff Sascha die Anregung sofort auf.
Doch Marlene war skeptisch.
»Ich glaube, ich muß das alles erst noch verdauen. Es ist noch zu frisch, daß ich mit jemand Fremden darüber sprechen könnte oder möchte.«
»Das kann ich verstehen. Wir werden uns in ein oder zwei Tagen noch einmal darüber unterhalten«, entgegnete der Arzt verständnisvoll.
»Wie lange werde ich hierbleiben müssen?« erkundigte sich Marlene.
»Um Nachblutungen zu vermeiden, würde ich ein paar Tage Ruhe empfehlen. Aber wenn Sie natürlich den dringenden Wunsch haben, die Klinik zu verlassen, werde ich Sie nicht daran hindern.«
»Sie haben mich in den vergangenen Jahren so gut betreut, da werde ich mich ganz auf Ihren Rat verlassen.«
»Leider hat all die gute Betreuung letztendlich keinen Erfolg gehabt«, entfuhr es Schorsch.
»Das