Melody Carlson

Grace Unplugged


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er schon oft gesehen. Nichts würde das Mädchen davon abhalten, ihren Traum zu verwirklichen. Darauf baute er.

      Kapitel 6

      Grace vollführte in diesen Tagen einen wahren Drahtseilakt. Vorsichtig wägte sie jeden Schritt ab, kontrollierte ihre Gedanken, achtete genau auf ihre Worte und versuchte, einerseits ihre Aufregung zu verbergen und sich andererseits vorzustellen, wie es weitergehen konnte. Auch ihren Eltern war nicht entgangen, dass sie sich anders verhielt. Beide hatten sowohl zusammen als auch getrennt voneinander angemerkt, dass sie in letzter Zeit viel reifer und vernünftiger wirkte. Oh, wenn sie wüssten!

      Mehrmals hätte sie sich ihnen beinahe anvertraut. Doch jedes Mal hatte ihr Vater es vermasselt, indem er etwas Überbesorgtes, Urteilendes sagte oder sogar Witze auf ihre Kosten machte. Klar, er war im Prinzip einfach wie immer, aber wenn er wüsste, wie oft er sie zum Schweigen gebracht und sie ihre Eltern folglich doch lieber nicht eingeweiht hatte … Aber vermutlich war es ohnehin besser so. In dieser Angelegenheit würden sie sowieso keinen kühlen Kopf bewahren können. Sie kannte ihren Vater zu gut. Und auch wenn ihre Mutter sehr verletzt sein würde, irgendwann würde sie es verstehen können.

      Am Sonntag fand Grace, es sei höchste Zeit, mal richtig Gas zu geben. Und sie wusste auch schon genau, wo und wie. Sie hatte nicht die Absicht, ihre Mutter zu kränken oder ihren Vater in Verlegenheit zu bringen. Sie wollte einfach dafür sorgen, dass er sie in Ruhe ließ und ihr Freiraum gab. Und manchmal klappte so etwas nur, wenn man alles Störende wegsprengte. Außerdem, so versicherte sie sich selbst, während die Band sich auf der Bühne für die Anbetungszeit bereit machte, würde die Gemeinde es vermutlich zu schätzen wissen. Vielleicht würden sich manche später sogar bei ihr bedanken. Und sie bekämen eine Show geliefert, die sie so schnell nicht vergessen würden.

      Alles fing an wie immer, jeder hatte seinen Platz auf der Bühne eingenommen, ihr Vater stand vorne und hatte die Leitung – und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Beim ersten Lied tat Grace auch noch genau das, was sie sollte. Doch gleich danach hängte sie sich ihre Gitarre um, die sie hinter einem Verstärker versteckt hatte. Während ihr Vater die Gemeinde dazu aufforderte, beim nächsten Lied richtig mitzugehen, stöpselte sie die Gitarre ein. Als ihr Vater dann das Lied anstimmte und dabei zufällig in ihre Richtung sah, war es schon zu spät. Sein Blick war unbezahlbar.

      Dieser Song, sagte Grace sich selbst, während sie begann, richtig abzugehen, dieser Song musste einfach so gespielt werden! Sie spielte und sang so, als würde sie vor ihren Fans auftreten. Und ein Großteil der Gemeinde schien tatsächlich mitzugehen, ungefähr so, wie ihr Vater es erbeten hatte. Manche der Gesichter sahen ein bisschen betreten drein, aber gerade die Jüngeren schienen fast dankbar. Als hätte sie sie aufgeweckt und ihnen die Chance gegeben, Gott mit Klatschen und Singen voller Enthusiasmus anzubeten. War nicht genau das der Sinn der Sache?

      Sie wusste, dass ihr Vater hinter seinem gespielten Lächeln vor Wut kochte. Er bewahrte auch nach dem Lied die Fassung und machte sogar eine Bemerkung darüber, dass der Apfel nicht weit vom Stamm falle – seine Tochter sei wohl auch ein Rockstar. Die Gemeinde lachte sehr darüber. Wer würde zuletzt lachen?

      Doch vor dem nächsten Lied warf er ihr einen eindeutigen Blick zu. Und da der Song wirklich langsam und bedächtig war, hielt sie sich zurück. Aber sie tat es nicht für ihren Vater. Sie tat es für den Song und für die Gemeinde. Doch immer, wenn sie etwas Schnelleres spielten, nahm sie sich wieder die Gitarre und spielte und sang voller Leidenschaft.

      Am Ende des Gottesdienstes war Grace nicht sicher, was sie von ihrem Vater halten sollte. Er schien beinahe abgeklärt. Als würde er vielleicht nachgeben und ihren Musikstil akzeptieren. Als würde er ihr endlich mehr Luft zum Atmen geben. Und als sie dann mit Leuten aus der Gemeinde sprach, deren Komplimente genoss – und sah, wie ihr Vater lachte und Witze machte, war sie voller Hoffnung, dass ihr Vater sie endlich verstehen würde.

      Sogar Pastor Tim kam auf sie zu. »Das war überraschend erfrischend«, sagte er. Genau das waren seine Worte.

      »Danke, das war alles Papas Idee.«

      Auf dem Weg zum Auto dachte Grace, dass sie vielleicht wirklich einen Meilenstein in ihrer Beziehung erreicht hatten. Endlich ließ ihr Vater sie von der Leine, ließ sie erwachsen werden und ihre musikalischen Flügel ausbreiten. Grace seufzte erleichtert, als ihr Vater den Motor anließ. Ihre Mutter begann den üblichen Small Talk über Gemeinde und Freunde und das Mittagessen. Und dann – sie waren mittlerweile in sicherer Entfernung zur Gemeinde – explodierte ihr Vater. »Was um alles in der Welt hast du da drin gemacht, Grace Rose Trey?«

      »Gesungen?«

      »Werd jetzt nicht frech, Fräulein!«

      »Papa, ich wollte einfach …«

      »Du weißt, dass du zu weit gegangen bist. Viel zu weit. Und es macht dir noch nicht mal was aus, richtig?«

      »Johnny.« Ihre Mutter legte eine Hand auf seinen Arm. »Lass uns ruhig bleiben.«

      Er nickte nur flüchtig. »Ja. Klar. Ruhig.« Er holte tief Luft. »Also. Was hast du dir dabei gedacht, Grace?«

      »Ich habe versucht …«

      »Alles an dich zu reißen! Das war’s doch wohl, oder?« Er schlug mit der Hand auf das Lenkrad. So viel zum Thema ruhig. »Du wolltest das Kommando übernehmen und die Anbetungszeit zu einem Grace-Trey-Konzert machen. Du glaubst, die Gemeinde ist da, weil sie dich sehen will – Grace Trey, den großen Rockstar. Du denkst, du bist die nächste Renae Taylor. Du hattest diesen ganz bestimmten Blick drauf, Grace. Glaub nicht, ich hätte das nicht gesehen!«

      »Ich glaube nicht, dass du irgendwas siehst, Papa. Nicht mal, wenn es direkt vor deiner Nase ist.«

      »Grace!«, warnte ihre Mutter.

      »Tut mir leid, Mama«, sagte sie wütend. »Aber es stimmt. Papa hat überhaupt keine Ahnung von mir und meiner Musik.«

      »Deiner Musik?« Langsam schüttelte er den Kopf. »In der Anbetungszeit ist es Gottes Musik, Grace. Verstehst du das denn nicht?«

      »Ich verstehe, dass es deine Musik ist, Papa. Und alles, was ich anders machen möchte, ist automatisch falsch. Hab’s schon verstanden, okay?«

      »Grace, darum geht es gar nicht, und das weißt du genau!«

      »Es war so viel besser als die langweilige Version, die wir geprobt hatten – und alle fanden es toll! Hast du das nicht bemerkt?«

      Ihr Vater holte jetzt tief Luft, als wollte er sich darauf vorbereiten, erneut zu explodieren.

      »Grace«, sagte ihre Mutter sanft und legte ihre Hand wieder auf den Arm ihres Vaters, um ihn zu beruhigen. »Dein Vater hat recht. Das war nicht deine Aufgabe. Er ist der Leiter und ist dafür zuständig, solche Sachen zu entscheiden.«

      »Ich weiß!« Grace sank auf dem Rücksitz zusammen und fühlte sich mal wieder wie eine Achtjährige. »Das hat er mittlerweile schon hundertmal gesagt.«

      Jetzt war es still im Auto, und Grace wusste, dass ihre Hoffnung nur eine Illusion gewesen war. Wie hatte sie nur so naiv sein können? Keiner sagte mehr etwas, und nach einer halben Ewigkeit bog ihr Vater endlich in ihre Auffahrt ein. Grace wollte gleich rausspringen, während sie darauf warteten, dass sich das Garagentor öffnete, aber ihr Vater drückte nicht einmal auf den entsprechenden Knopf.

      »Noch eine Sache, Grace.« Er stieg aus und kam herüber zu der Seite, wo sie gerade ausgestiegen war. Er sah ihr direkt in die Augen. »Kannst du mir erklären, wie du auch noch den Pastor anlügen konntest?«

      »Wieso anlügen?«

      Ihr Vater nickte grimmig. »Wegen der Anbetungszeit. Warum hast du ihn deshalb derartig angelogen?«

      »Kommt«, sagte ihre Mutter und lief schnell zur Haustür. »Lasst uns das drinnen weiter besprechen.«