Michael Tilly

Das Judentum


Скачать книгу

judäischen Exulanten, die zumeist in zusammenhängenden Gemeinden im südöstlichen Babylonien als Bauern und Hirten lebten und von den Babyloniern in vielerlei Berufen als Arbeitskräfte eingesetzt wurden, verstärkte sich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder durch Zuwanderung.

      Im babylonischen Exil entwickelte sich abseits der israelitischen religiösen Traditionen die monotheistische Gleichsetzung des Gottes Israels mit dem Schöpfergott. Es entstanden grundlegende kultische und rechtliche Abschnitte der Tora als schriftliche Fundamente des jüdischen Glaubens. Um dem Anpassungsdruck der fremdgläubigen Umwelt standzuhalten und die eigene Identität zu wahren, führten die Deportierten die Sitte der Beschneidung (vgl. Kap. 3, Die Beschneidung) der männlichen Erstgeborenen ein, die in Babylonien unüblich war. Sie gestalteten den Sabbattag, der wahrscheinlich in seinem Ursprung ein Vollmondfest am Jerusalemer Tempel war, als allwöchentlichen Feiertag mit Arbeitsruhe. Die Reinheits- und Speisegebote, die ursprünglich dem priesterlichen Bereich entstammten, dienten nun der sozialen Abgrenzung der Judäer zwischen Euphrat und Tigris und stärkten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl im Alltag. Aus einer ortsgebundenen Religion begann während der Exilszeit eine Religion der Schrift zu werden. Die Tora wurde zum eigentlichen Bindeglied zwischen dem Volk Israel und seinem Gott. Jedoch konnte auch im babylonischen Exil der Jerusalemer Gottesberg Zion als Ort der heiligenden Gottesnähe Orientierungspunkt religiöser und nationaler Hoffnungen bleiben. Unter den Angehörigen der aus Jerusalem verschleppten Oberschicht wurde die – nun unerreichbar weit entfernte – Heimatstadt Jerusalem zunehmend Schauplatz des erhofften endzeitlichen Eingreifens Gottes zugunsten seines bedrängten Volkes.

      Auch nach der Eroberung des neubabylonischen Großreiches durch den Perserkönig Kyros II. (539 v. Chr.) und der von ihm tolerierten Rückkehr der Exulanten in ihre Heimat, wo es ihnen gestattet war, ihren Tempel wiederaufzubauen, blieb ein nicht geringer Teil von ihnen in Babylonien, wo sie seit dem ersten Jahrhundert als feudal strukturierte, autarke Bevölkerungsgruppe von einem jüdischen Exilarchen (»Resch Galuta«) angeführt wurden. Dieses bis ins 11. Jahrhundert fortdauernde Amt wurde von Generation zu Generation vererbt. Die Mehrzahl der babylonischen Juden lebte als Bauern und Handwerker. Die Unterschicht bestand aus Lohnarbeitern und Sklaven. Einige wenige babylonische Juden waren am Fernhandel beteiligt.

      Zunächst noch unter seleukidischer Herrschaft lebend, gerieten die babylonischen Juden 240 v. Chr. in den Machtbereich der Arsakiden. Der Norden Mesopotamiens gehörte zeitweilig zum römischen Reich. Während der langen Herrschaft der Sassaniden (seit 224) lebten sie vorwiegend von der Landwirtschaft, von der Schifffahrt und dem Handel. Jedoch kam es in der Anfangszeit der Sassanidenherrschaft immer wieder zu lokalen Zerstörungen von Synagogen und jüdischen Grabstätten und auch zu religionspolitisch motivierten krisenhaften Perioden der Unterdrückung und Verfolgung. Im Jahre 495 ausbrechende jüdische Aufstände mit dem Ziel der Errichtung eines unabhängigen jüdischen Königreichs wurden von Chawad I. (488–531) niedergeschlagen; die Anführer der Rebellen wurden hingerichtet. Erst unter dem Sassanidenherrscher Chosrau I. (531–578) stabilisierte sich die Lage für das Judentum im Zweistromland dauerhaft. Jüdische Soldaten beteiligten sich am Kampf der Sassaniden gegen Rom.

      Die Verbindung des babylonischen Judentums mit Jerusalem war stets weitaus enger als die Beziehung zwischen der ale­xandrinischen Diaspora (»Zerstreuung«) und dem Tempelstaat. Nach dem jüdischen Krieg und ebenso nach dem Bar-Kochba-Aufstand (vgl. Kap. 1, Exkurs: Qumran) kamen zahlreiche Flüchtlinge aus Palästina nach Babylonien. Das Aramäisch sprechende babylonische Judentum konnte über die Jahrhunderte eine eigenständige religiöse und kulturelle Tradition entwickeln, die in der im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris entstandenen reichen rabbinischen Literatur, insbesondere im babylonischen Talmud (vgl. Kap. 2, Die Talmudim), erhalten ist.

       Antike

      Babylonien

      Grundlegende Kennzeichen der antiken jüdischen ­Religion sind ihr strenger Monotheismus, die Kultzentralisation, die zentrale Bedeutung der als unmittelbar von Gott geoffenbart geltenden Tora (vgl. Kap. 2, Die Tora) und durch die Tora begründete Identitätsmerkmale wie Sabbatheiligung, Reinheitsbestimmungen und Beschneidung.

      Das Judentum war und ist eine Buchreligion. Die in der Zeit während und nach dem babylonischen Exil (587/586–538 v. Chr.) entstandene schriftliche Tora ist die historische Voraussetzung des Judentums. Erst im Land zwischen Euphrat und Tigris südlich des heutigen Bagdad entstand auf der Basis alt­israelitischer religiöser Traditionen die jüdische Religion. Die verschleppten Judäer nahmen viele Elemente aus ihrem kulturellen und religiö­sen Umfeld auf, verknüpften sie mit ihren eigenen Traditionen und entwickelten sie in kreativer Weise weiter. Hieraus ergibt sich die Konsequenz, nicht die heilsgeschichtliche Geschichtsbetrachtung der Bibel innerhalb des Horizontes frommer jüdischer (und christlicher und islamischer) Tradition als Orien­tierungsrahmen dieser Darstellung wesentlicher Phasen der bewegten jüdischen Geschichte zu Grunde zu legen, sondern die philologisch und geschichtswissenschaftlich verantwortete Analyse und Interpretation der geschichtlichen Quellen.

      Im Jahre 597 v. Chr. verlor Juda seine Unabhängigkeit, nachdem es seinen Vasalleneid gegen Nebukadnezzar II. (605–562 v. Chr.), den Begründer des neubabylonischen Reiches, gebrochen hatte. Der judäische König Jojachin wurde zusammen mit Priestern, Hofbeamten und Teilen der städtischen Oberschicht aus Jerusalem nach Babylonien deportiert. Im Juli 587/586 v. Chr. eroberten die Truppen Nebukadnezzars endgültig die Stadt Jerusalem, das einstige politische Zentrum des Reiches Juda, und zerstörten den salomonischen Tempel, den uneinnehmbar geglaubten Wohnsitz des Gottes Israels. Das Königreich Juda wurde zu einer tributpflichtigen babylonischen Provinz. Viele Bewohner Jerusalems und der umliegenden Gebiete wurden in einer zweiten Welle nach Babylonien verschleppt (vgl. 2. Kön 25). Die Gemeinschaft dieser judäischen Exulanten, die zumeist in zusammenhängenden Gemeinden im südöstlichen Babylonien als Bauern und Hirten lebten und von den Babyloniern in vielerlei Berufen als Arbeitskräfte eingesetzt wurden, verstärkte sich in den folgenden Jahrhunderten immer wieder durch Zuwanderung.

      Im babylonischen Exil entwickelte sich abseits der israelitischen religiösen Traditionen die monotheistische Gleichsetzung des Gottes Israels mit dem Schöpfergott. Es entstanden grundlegende kultische und rechtliche Abschnitte der Tora als schriftliche Fundamente des jüdischen Glaubens. Um dem Anpassungsdruck der fremdgläubigen Umwelt standzuhalten und die eigene Identität zu wahren, führten die Deportierten die Sitte der Beschneidung (vgl. Kap. 3, Die Beschneidung) der männlichen Erstgeborenen ein, die in Babylonien unüblich war. Sie gestalteten den Sabbattag, der wahrscheinlich in seinem Ursprung ein Vollmondfest am Jerusalemer Tempel war, als allwöchentlichen Feiertag mit Arbeitsruhe. Die Reinheits- und Speisegebote, die ursprünglich dem priesterlichen Bereich entstammten, dienten nun der sozialen Abgrenzung der Judäer zwischen Euphrat und Tigris und stärkten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl im Alltag. Aus einer ortsgebundenen Religion begann während der Exilszeit eine Religion der Schrift zu werden. Die Tora wurde zum eigentlichen Bindeglied zwischen dem Volk Israel und seinem Gott. Jedoch konnte auch im babylonischen Exil der Jerusalemer Gottesberg Zion als Ort der heiligenden Gottesnähe Orientierungspunkt religiöser und nationaler Hoffnungen bleiben. Unter den Angehörigen der aus Jerusalem verschleppten Oberschicht wurde die – nun unerreichbar weit entfernte – Heimatstadt Jerusalem zunehmend Schauplatz des erhofften endzeitlichen Eingreifens Gottes zugunsten seines bedrängten Volkes.

      Auch nach der Eroberung des neubabylonischen Großreiches durch den Perserkönig Kyros II. (539 v. Chr.) und der von ihm tolerierten Rückkehr der Exulanten in ihre Heimat, wo es ihnen gestattet war, ihren Tempel wiederaufzubauen, blieb ein nicht geringer Teil von ihnen in Babylonien, wo sie seit dem ersten Jahrhundert als feudal strukturierte, autarke Bevölkerungsgruppe von einem jüdischen Exilarchen (»Resch Galuta«) angeführt wurden. Dieses bis ins 11. Jahrhundert fortdauernde Amt wurde von Generation zu Generation vererbt. Die Mehrzahl der babylonischen Juden lebte als Bauern und Handwerker. Die Unterschicht bestand aus Lohnarbeitern und Sklaven. Einige wenige babylonische Juden waren am Fernhandel beteiligt.

      Zunächst noch unter seleukidischer Herrschaft lebend, gerieten die babylonischen Juden 240 v. Chr. in den Machtbereich der Arsakiden. Der Norden Mesopotamiens gehörte zeitweilig zum römischen Reich. Während der langen Herrschaft der Sassaniden (seit 224) lebten sie vorwiegend von der Landwirtschaft, von der Schifffahrt und dem Handel. Jedoch kam