Оскар Уайльд

Weihnachtsgeschichten, Märchen & Sagen (Über 100 Titel in einem Buch - Illustrierte Ausgabe)


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Tinte benötigte, und die sie gleichzeitig mit ihrer Zunge in der Luft nachmalte. Ferner wie sie, nachdem sie einmal Tinte geschmeckt, durstig danach wurde, wie der Tiger, wenn er Blut geleckt, und alles mögliche unterzeichnen und ihren Namen in alle Ecken schreiben wollte. Schließlich aber wurde dabei der Doktor seines Amtes und seiner Verantwortlichkeit enthoben, und Alfred nahm diese selbst auf sich und trat seine Studienreise an.

      »Britain!« sagte der Doktor, »eile zur Gartentür und sieh, ob die Kutsche kommt. Die Zeit entflieht, Alfred.«

      »Ja, Herr, ja«, entgegnete der Jüngling hastig. »Liebe Grace! einen Augenblick! Marion – so jung und schön, so liebenswert und so bewundert, meinem Herzen so lieb wie nichts auf der Welt – vergiß es nicht! Ich empfehle Marion in deine Hände.«

      »Sie war mir immer ein teures Vermächtnis, Alfred. Jetzt ist sie mir doppelt teuer. Ich werde mich deines Vertrauens würdig erweisen«, sagte Grace.

      »Ich glaube es, Grace«, versetzte Alfred. »Ich weiß es. Wer könnte in dein Auge schauen, deine innige Stimme hören, und es nicht wissen? Ach, liebe Grace! hätte ich dein sicheres Gefühl, dein ruhiges Gemüt, wie unbekümmert würde ich heute diese Stätte verlassen.«

      »Glaubst du?« antwortete sie mit ruhigem Lächeln.

      »Und doch, Grace – Schwester möchte ich beinahe sagen –«

      »Sag es!« unterbrach sie ihn lebhaft. »Ich höre es gern, nenne mich niemals anders.«

      »Schwester also«, sagte Alfred, »und doch ist es besser für Marion und für mich, wenn uns dein beständiges und getreues Gemüt hier hilft und uns glücklicher und besser macht. Selbst wenn ich es vermöchte, würde ich sie nicht meinetwegen mitnehmen.«

      »Die Kutsche hat die Höhe erreicht!« rief Britain.

      »Die Zeit vergeht, Alfred«, mahnte der Doktor.

      Marion hatte beiseite gestanden, die Augen zu Boden gesenkt; aber jetzt führte Alfred sie liebevoll zur Schwester hin und legte sie an deren Brust.

      »Ich habe Grace gesagt, liebe Marion«, sprach er, »daß ich dich ihrer Obhut anvertraue, dich ihr beim Scheiden als mein teuerstes Kleinod übergebe. Und wenn ich wiederkomme und dich zurückfordere, Geliebteste, und die schöne Zukunft unseres Ehelebens sich vor uns breitet, da soll es eine unserer schönsten Freuden sein, darüber nachzudenken, wie wir Grace glücklich machen, ihren Wünschen zuvorkommen, ihr unsere Liebe und Dankbarkeit beweisen und ihr etwas von der Schuld zurückzahlen können, die wir ihr gegenüber haben.«

      Die jüngere Schwester hatte eine Hand in die seine gelegt; mit der andern hielt sie ihre Schwester umschlungen. Sie sah in die sicheren heiteren Augen ihrer Schwester mit einem Blick, in dem sich Liebe, Bewunderung, Trauer und fast Verehrung vermischten. Sie blickte empor zum Gesicht der Schwester, als wäre es das Antlitz eines himmlischen Engels. Und mit heiterer, seliger Ruhe schaute dieses Antlitz auf sie und ihren Geliebten herab.

      »Und sobald die Zeit kommt, wenn sie einmal kommen muß«, sagte Alfred; »es wundert mich, daß sie noch nicht gekommen ist: aber Grace weiß dies am besten, und Grace hat immer recht – wo sie das Herz eines Freundes nötig hat, dem sie sich vertrauen kann, wie wir ihr vertrauten: wie treu wollen wir dann zu ihr sein, Marion, und wie wollen wir uns freuen, daß unsere gute Schwester liebt und geliebt wird, wie sie es immer wert ist!«

      Immer noch sah ihr die jüngere Schwester in die Augen und wandte sich nicht ab – nicht einmal nach ihm hin. Und immer noch verweilten diese treuen Augen mit friedvoller Ruhe auf ihr und ihrem Geliebten.

      »Und wenn das alles vergangen ist und wir alt sind und in enger Gemeinschaft leben und oft von vergangenen Zeiten reden«, sagte Alfred, »dann soll diese vor allem anderen unsere Lieblingszeit sein – vornehmlich dieser Tag! und dann werden wir uns erzählen, was wir beim Abschied dachten und fühlten und hofften und fürchteten; und wie wir uns nicht Lebewohl zu sagen vermochten.«

      »Die Kutsche fährt durch das Wäldchen«, rief Britain.

      »Ja! Ich bin bereit – und wie wir trotz allem uns so glücklich wiedersahen: diesen Tag wollen wir zum glücklichsten im ganzen Jahre machen und als einen dreifachen Geburtstag feiern. Nicht wahr, Liebe?«

      »Ja!« sagte die ältere Schwester feurig mit strahlendem Lächeln. »Ja! Alfred, aber verweile nicht länger. Es bleibt keine Zeit mehr übrig. Verabschiede dich von Marion, und möge Gott dich beschützen!«

      Er zog die jüngere Schwester an seine Brust. Als er sie wieder losließ, lehnte sie sich erneut an Grace und sah wieder mit dem gleichen empfindungsreichen Blick in das ruhige Auge.

      »Leben Sie wohl, Alfred!« sagte der Doktor. »Von ernsthaftem Briefwechsel oder tiefer Zuneigung und Verpflichtung und so weiter in diesem – ha, ha, ha! – Ihr wißt, was ich sagen will – zu reden, das wäre natürlich ein Unfug. Ich vermag nur festzustellen, daß, wenn Sie und Marion desselben vernarrten Sinnes bleiben, ich gegen Sie als Schwiegersohn, wenn die Zeit reif sein wird, nichts zu bemerken hätte.«

      »Auf der Brücke!« schrie Britain.

      »Möge sie kommen!« sagte Alfred und schüttelte dem Doktor herzlich die Hand. »Gedenken Sie bisweilen meiner, mein alter Freund und Vormund, so ernst, wie es Ihnen möglich ist! Leben Sie wohl, Mr. Snitchey! Leben Sie wohl, Mr. Craggs!«

      »Sie fährt die Straße herunter!« rief Britain.

      »Einen Kuß für Clemency Newcome, in alter Freundschaft, – hier die Hand, Britain – Marion, liebstes Herz, lebe wohl! Schwester Grace, vergiß nicht!«

      Die mütterliche Gestalt mit dem in seiner heiteren Ruhe so schönen Antlitz wandte sich ihm zu; aber Marions Auge vermochte nicht mehr, sich von der Schwester abzuwenden.

      Die Kutsche war vor der Tür. Das Gepäck wurde hinaufgehoben. Die Kutsche fuhr weiter. Marion rührte sich nicht.

      »Er winkt dir mit dem Hut nach, Liebe«, sagte Grace. »Dein Bräutigam, teures Herz. Sieh!«

      Die jüngere Schwester sah auf und wendete für einen Augenblick das Haupt. Als sie aber nun zum erstenmal dem vollen Blick dieser ruhigen Augen begegnete, warf sie sich der älteren Schwester weinend um den Hals.

      »O Grace, Gott segne dich! Aber ich kann das nicht sehen, Grace! Es zerbricht mir das Herz.«

      Zweiter Teil

       Inhaltsverzeichnis

      Snitchey und Craggs hatten ein nettes kleines Bureau auf dem alten Schlachtfeld, wo sie ein nettes, kleines Geschäft betrieben und viele kleine Schlachten für viele streitende Parteien lieferten. Obgleich man eigentlich nicht behaupten konnte, daß diese Kämpfe leichte und muntere Schützengefechte waren – denn sie verliefen gewöhnlich recht langsam und mühselig – so konnte man doch die Beteiligung der Firma daran insofern unter dieser Kampfesart charakterisieren, als sie bald einen Schuß auf diesen Kläger, bald eine Kugel auf jenen Verteidiger abfeuerten, bald mit aller Macht über ein unter Sequester stehendes Grundstück herfielen, bald aber wieder ein Scharmützel mit einem beliebigen Korps kleiner Schuldner hatten, je nachdem wie sich dazu die Gelegenheit bot und der Feind sich ihnen stellte. Für sie war ebenso wie für berühmtere Leute die Zeitung ein wichtiges und höchst interessantes Blatt; und von den meisten Unternehmungen, in denen sie ihr Feldherrntalent gezeigt, erklärten die Kämpfenden später, daß sie wegen des vielen Rauchs, von dem sie umwölkt gewesen, sich nur sehr schwer hätten erkennen und kaum hätten erfahren können, was sie eigentlich machten.

      Das Bureau der Herren Snitchey und Craggs lag sehr bequem am Markte hinter einer offenen Tür und zwei polierten abwärtsgesenkten Stufen, so daß jeder erboste Pächter, den es nach einem Prozeß gelüstete, mit der größten Leichtigkeit hineinstolpern konnte. Ihre Besprechungen hielten sie in einem Hinterzimmer, eine Treppe hoch, ab; einem Raum mit einer niedrigen dunklen Decke, als ob dieser Raum die Brauen in düsterm Grübeln über verwickelte Rechtsprobleme zusammenzöge. Seine Einrichtung bestand aus