blieb dabei, dass Ingrid Pleyer nach zehn Tagen entlassen werden sollte. Sie würde sich allerdings auch zu Hause noch schonen müssen. Aber dieser Gedanke beschwerte sie nicht, seitdem sie wusste, dass sie in Lebensgefahr gewesen war.
Imma ging mit Petra noch einige Stunden früher in die Mühle, um alles für den Empfang der Mutter vorzubereiten. Im Haus hatte Imma jedoch keine Arbeit. Es blitzte dort vor Sauberkeit.
Petra lief auf die Wiesen hinaus und pflückte einen großen Blumenstrauß. Er prangte im Wohnzimmer, als Ingrid es betrat. Sie war noch immer blass und angegriffen, aber ihre Freude, wieder zu Hause zu sein, ließ sie alles vergessen.
»Überall herrscht vorbildliche Ordnung. So war das bisher nur, als mein Mann noch lebte«, sagte sie dankbar.
»Karl hat dafür gesorgt, Mutti«, meinte Petra. »Er war kaum noch auf dem Birkenhof. Im Schuppen haben wir jetzt so viel gespaltenes Holz, dass wir den ganzen Winter bestimmt nicht frieren. Du brauchst gar nichts mehr zu tun.« Petra umarmte ihre Mutter. »In der Scheune ist viel Heu. Es riecht ganz toll. Imma und ich haben das Gras gewendet, und Karl hat es eingefahren, als es trocken war. Weißt du, wer den Wagen gezogen hat?«
»Wer wohl?« Ingrid drückte ihr Töchterchen fest an sich. »Sicher unser Simmerl.«
»Ja, Mutti, wir waren dreimal mit ihm hier, und jedes Mal hat er sich sehr gefreut. Das habe ich gesehen. Karl sagt, Simmerl wird noch lange leben, weil er ganz gesund ist. Vielleicht können wir ihn im nächsten Jahr wieder zu uns holen.«
»Ganz sicher könnt ihr das nach dem Winter«, bestätigte Imma. »Es gibt neue Aufträge, Ingrid. Ich habe noch mehrere Bauern aufgerüttelt. Sie sagten alle, dass sie es nicht böse gemeint hätten, als sie zu anderen Mühlen fuhren. Sie wären der Meinung gewesen, dass Sie die Mühle hier bald aufgeben und wegziehen würden.«
Ingrid erschrak. »Nie habe ich das erwogen. Die Mühle gehörte schon den Eltern meines Mannes, und Petra und ich fühlen uns hier wohl.«
Imma blieb noch eine Stunde, dann konnte sie Ingrid Pleyer guten Gewissens mit ihrem Töchterchen allein lassen.
*
Eine Woche später ging es Ingrid bereits wieder so gut, dass sie alle Arbeit im Haus bewältigen und auch schon in der Mühle arbeiten konnte. Einer der beiden Männer, die sie täglich für einige Stunden beschäftigte, half ihr, die erste Fuhre Getreide des Grasser-Bauern zu mahlen. Der Grasser-Bauer hatte diesen Auftrag im Voraus bezahlt. In seiner bestimmten Art hatte er getan, als sei das etwas Selbstverständliches, damit sich Ingrid nicht beschämt zu fühlen brauchte.
Es gab ihr neue Lebenskraft, dass man zu ihr hielt. Das wahre Glück war aber noch nicht in der Schlehdorn-Mühle eingezogen, denn noch immer vermochte Ingrid ihren Mann nicht zu vergessen.
Wenn Petra schlief, saß sie oft noch an einem der Fenster und sah in den Abend und die sinkende Dunkelheit hinaus. Sie hatte sich an die Einsamkeit um die Mühle gewöhnt, aber gerade um diese Zeit bedrückte sie die große Stille oft.
Heute überlegte sie, ob sie nicht ein Stück Grund verkaufen sollte, damit sich jemand in unmittelbarer Nähe der Mühle ein Häuschen bauen konnte. Dann hätte sie wenigstens einen Nachbarn. Und der Erlös aus dem Verkauf des Grundstücks würde ihr gute Dienste leisten. Bisher hatte sie sich immer gescheut, etwas von dem herzugeben, was die Eltern ihres Mannes einmal erworben hatten.
Ingrid stand auf und griff nach den bunten Übergardinen, um sie zuzuziehen. Plötzlich zuckte sie zusammen und drückte das Gesicht an die Fensterscheibe. War da nicht gerade ein Schatten bei der kleinen Scheune gewesen?
Sie strich sich über die Augen. War sie übermüdet und einer Halluzination zum Opfer gefallen? Sie ging vor das Haus und sah sich um.
Sie konnte nichts Außergewöhnliches entdecken, und es war alles so still wie immer um diese Zeit.
Als sie später in ihrem Bett lag, dachte sie: Ich muss dafür sorgen, dass ein Hund ins Haus kommt. Petra wünscht sich schon lange einen Hund, und wir könnten ihn gut als Wächter brauchen.
Am nächsten Morgen begleitete Ingrid die kleine Petra durch den Wald, bis sie den Birkenhof vor sich liegen sah. Petra fragte: »Warum bist du heute mit mir gegangen, Mutti? Sonst laufe ich doch immer allein zum Birkenhof.«
»Ich wollte eben gern einen kleinen Spaziergang machen, Petra«, antwortete Ingrid. Aber sie war sich bewusst, dass das nicht der Wahrheit entsprach. In ihrem Herzen saß irgendeine Angst, die sie nicht zu erklären vermochte. Mit dem Schatten, den sie gestern gesehen zu haben glaubte, wollte sie diese Angst nicht in Verbindung bringen, und sie redete sich immer wieder ein, dass sie sich getäuscht hatte.
Petra würde heute erst am Abend heimkehren. Sie freute sich auf diesen Tag. Übermütig lief sie zum Birkenhof hinüber und winkte noch mehrere Male zur Mutter zurück.
Ingrid ging auf dem Rückweg etwas schneller. Sie hatte sich vorgenommen, an diesem Vormittag viel Arbeit im Haus zu verrichten. Am Nachmittag erwartete sie den Mann, der ihr in der Mühle half.
Kurze Zeit, nachdem sie zurückgekommen war, ging sie in die Scheune, um den Hofbesen zu holen. Petra musste ihn gestern dort stehengelassen haben. In der Scheune hielt sie sich besonders gern auf. Meistens schleppte sie ihre Puppen und Stofftiere mit und bettete sie ins Heu.
Ingrid lächelte, als sie den Duft des frischen Heues einsog. Ja, Petra hatte recht, wenn sie sagte, dass es nirgends so gut rieche wie in der Scheune.
Schon wollte Ingrid nach dem Besen fassen, da erstarrte sie. Nicht weit von ihr entfernt lag ein Mensch im Heu. Beide Hände presste sie auf das wild klopfende Herz und wagte kaum, sich zu bewegen. Und doch musste sie nachsehen, wer da im Heu lag.
Sie schlich sich auf Zehenspitzen näher, und dann stellte sie fest, dass es ein Mann war.
Ich habe mich also gestern Abend nicht getäuscht, dachte sie, es ist jemand über den Hof gelaufen und hier in der Scheune verschwunden.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Der Mann sah nicht wie ein Landstreicher aus. Er trug einen sportlichen Anzug und ein kariertes Hemd. Braunes Haar hing dem Fremden wirr ins Gesicht. Trotzdem wirkte er nicht ungepflegt. In dem hier herrschenden Dämmerlicht meinte Ingrid zu erkennen, dass sein Gesicht gerötet war.
Ich muss auf jeden Fall die Polizei holen, überlegte Ingrid und ging zum Scheunentor zurück. In ihrer Aufregung stolperte sie über den Besen und stieß einen leisen Schrei aus. Erschrocken drehte sie sich um.
Der Mann im Heu hatte sich aufgesetzt und strich sich über die Augen.
Ingrid verharrte wie angewurzelt, dabei hätte sie noch Zeit zum Flüchten gehabt.
Jetzt erhob sich der Fremde. Er schwankte leicht.
Das fiel Ingrid nicht auf. Mit allem Mut, den sie noch aufbringen konnte, fragte sie: »Was tun Sie hier in der Scheune?«
Der Mann kam langsam auf sie zu. Wieder schwankte er etwas. »Entschuldigen Sie.« Er holte tief Luft. »Gehört Ihnen die Mühle?«
»Ja.«
»Sie brauchen keine Angst vor mir zu haben. Ich bin kein Vagabund.« Der Mann sprach stockend. »Ich habe nur ein Nachtlager gesucht.«
»Darum hätten Sie mich gestern aber wirklich bitten können, statt mich heute so zu erschrecken.« Ingrid floh nun durch die kleine Tür ins Freie.
Der Fremde folgte ihr. Als er ans Tageslicht kam, blinzelte er in die Sonne.
»Ja, das hätte ich tun sollen. Aber ich meinte, dass Sie mich nicht entdecken würden. Ich wollte schon am frühen Morgen weiter.« Er legte die Hand auf die Stirn. »Ich war wohl so erschöpft, dass ich nicht rechtzeitig erwacht bin.«
»Wohin wollen Sie denn?«, fragte Ingrid zögernd. Sie wusste nicht recht, ob sie sich mit dem Mann in ein Gespräch einlassen sollte oder nicht.
»Ich gehe schon, ich belästige Sie nicht länger«, sagte er und ging schnell davon.
Sie sah ihm nach. Hatte er getrunken,