da war. Und nun redete es sich in seiner Phantasie noch ein, dass sich diese irgendwo im Haus vor dem Mann versteckt hatte, weil sie sich selbst vor ihm fürchtete. Ja, so musste es sein!
»Ich hole den anderen Haustürschlüssel«, sagte Petra. Sie schluckte und wischte sich mit dem Ärmel des Nachthemdes über das Gesicht, das nass von Tränen war, dann lief sie in die Küche.
Dort hingen an einem Brett mehrere Schlüssel. Sie nahm den zweiten Haustürschlüssel herunter und rannte damit in den Flur zurück. Aber sie wagte sich nicht bis zu Stefan Becker. Er lehnte kraftlos an der Wand, seine Zähne scheugen aufeinander, Schüttelfrost überfiel ihn.
Petra warf ihm den Haustürschlüssel zu und stellte sich auf die Schwelle des Schlafzimmers. Von dort beobachtete sie den Mann. Er sollte die Haustür aufschließen und schnell gehen! Wenn er dann den Schlüssel stecken ließ, wollte sie zur Haustür laufen und rasch abschließen. Danach konnte sie ihre Mutti suchen und ihr sagen, dass sie wieder allein waren.
Stefan Becker bückte sich nach dem Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Ehe er die Haustür öffnete, sah er sich im Flur um, als finde er sich überhaupt nicht mehr zurecht. Seine Blicke schienen durch das kleine Mädchen hindurchzusehen.
»Was wollte ich?«, murmelte er. »Was wollte ich nur? Ach so, sie soll zurückkommen. Sie darf nicht für mich in der Nacht umherlaufen.« Er stieß die Haustür auf und taumelte ins Freie.
Petra schlich ein Stück den Flur entlang. Dass der Fremde die Haustür aufgelassen hatte, versetzte sie schon wieder in neue Angst. Erst als sie ihn im Schein des Hauslichtes nicht sah, lief sie an die Tür, schlug sie zu und schloss sie ab. Sie nahm den Schlüssel wieder an sich.
Dann erklang schon ihr Schrei: »Mutti? Mutti! Wo bist du?«
Petra erhielt keine Antwort. Weinend und rufend lief sie von einem Raum in den anderen, obgleich sie schreckliche Angst hatte und ihre Knie zitterten, schließlich setzte sie sich im Wohnzimmer auf das Sofa und weinte vor sich hin.
Als sie vor dem Haus Schritte hörte, kauerte sie sich noch mehr zusammen. Sicher kam der Mann zurück. Vielleicht schlug er die Haustür ein, wenn er nicht gleich herein konnte?
Jetzt war zu hören, dass die Haustür aufgeschlossen wurde. Petra war nicht fähig sich zu überlegen, dass das nur ihre Mutter sein konnte, sie schrie laut vor Angst.
Die Wohnzimmertür wurde aufgerissen, die Mutter stürzte in den Raum. Sie lief zu dem Sofa und umarmte Petra. »Um Himmels willen, Petra, was ist geschehen? Warum weinst und schreist du so?«
Petra klammerte sich an sie. »Mutti, jetzt bist du wieder da! Wo warst du? Ich habe solche Angst um dich gehabt und immer nach dir gerufen. Es war ein fremder Mann im Haus.«
Ingrid musste sich setzen. Ihre Beine trugen sie nicht mehr. Sie hatte Stefan Becker in den letzten Minuten vollkommen vergessen, weil sie nur von der Sorge um ihr Kind beherrscht wurde. Noch nie hatte sie Petra in solch einem erregten Zustand gesehen.
»Bitte, beruhige dich, Petra, es ist nichts Schlimmes passiert. Wirklich nicht. Ich war nur zum Telefonieren, wollte dich aber deswegen nicht wecken.«
»Du warst wirklich beim Telefon?« Petra vermochte das kaum zu fragen. Sie zitterte am ganzen Körper. »Aber wer war der Mann?«
»Wo hast du ihn gesehen?«, fragte Ingrid.
»Im Flur, Mutti. Er rief nach dir, da bin ich aufgewacht. Warum rief er nach dir?« Ihre Stimme klang schon wieder ängstlich.
»Er ist sehr krank, Petra. Er hat hohes Fieber. Deshalb habe ich mit Frau Dr. Weide telefoniert.«
»Aber jetzt ist er doch nicht mehr da, Mutti.«
»Er ist nicht mehr da?«, wiederholte Ingrid. Sie konnte kaum begreifen, was Petra da behauptet hatte.
»Er ist weggelaufen. Und ich war darüber so froh, Mutti.«
»Aber ich hatte doch die Haustür abgeschlossen! Er konnte doch gar nicht hinaus.«
»Ich habe ihm den zweiten Schlüssel aus der Küche geholt.« Petra zeigte auf den Schlüssel, den sie auf den Tisch gelegt hatte.
»Um Gottes willen!« Ingrid sprang auf. »Petra, dieser Mann ist Katrins Vater, und er ist schwer krank. Er kann sich draußen den Tod holen. Ich muss ihn suchen.«
Petra klammerte sich wieder an ihre Mutter. »Bitte, lauf nicht hinaus, Mutti, ich will nicht mehr allein bleiben. Ich habe doch solche Angst.« Erst allmählich ging ihr der Sinn dessen auf, was die Mutter eben gesagt hatte. »Der Mann war Katrins Vater? Wieso?«
»Das kann ich dir jetzt nicht alles erklären, Petra. Bitte, sei ganz lieb. Du brauchst diesen Mann wirklich nicht zu fürchten. Ich hatte ihn aufgenommen, weil er krank ist, aber ich wollte dir das heute noch nicht sagen. Hätte ich es doch getan! Jetzt muss ich um euch beide Angst haben. Um ihn, weil er in seinem hohen Fieber sicher nicht mehr weiß, was er tut, und um dich, weil du einen Schock bekommen hast.«
Petra trocknete sich die Tränen ab. Das geschah jetzt doch wieder mit der resoluten Bewegung, die man an ihr kannte. Mit noch stockender Stimme sagte sie: »Mutti, suche den Mann, wenn er nicht böse ist. Ich werde keine Angst mehr vor ihm haben.«
Ingrid küsste sie. »Nimm dir die Decke, damit du nicht frierst, und warte hier auf mich. Frau Dr. Weide wird gleich kommen und mir Herrn Becker sicher suchen helfen. Hoffentlich ist er nicht weit gekommen.« Sie lief hinaus.
»Becker heißt er«, murmelte Petra, als mache es ihr weiteren Mut, dass die Mutter den Namen des Mannes kannte.
Als Ingrid bei der Scheune war, tauchten die Lichtkegel von Scheinwerfern auf. Sie blieb stehen und presste die Hände auf die Brust.
»Das muss Frau Dr. Weide sein«, sagte sie laut.
Gleich darauf hielt der Wagen neben ihr. Die Ärztin stieg aus. Am Volant saß ihr Mann. Er begleitete sie oft, wenn sie nachts zu einem Patienten gerufen wurde.
»Wieso stehen Sie vor dem Haus, Frau Pleyer?«, fragte Frau Dr. Weide. »Geht es Ihrem Patienten so schlecht, dass Sie keine Ruhe hatten, im Haus zu bleiben?«
Ingrid erzählte kurz, was inzwischen passiert war. Aber noch verriet sie nicht, wer der Patient war, zu dem sie die Ärztin gerufen hatte.
Dr. Weide stieg aus. Er hatte alles gehört. »Dann werden wir den Mann suchen müssen. Ja, mit vierzig Grad Fieber hat schon mancher eine Dummheit gemacht.« Er leuchtete mit einer Taschenlampe zu den Schlehdornbüschen und ging langsam darauf zu.
Die beiden Frauen folgten ihm.
Nach einer Viertelstunde hatten sie Stefan Becker gefunden. Er lag neben dem Weg zum Birkenhof. In seinem Trancezustand musste er jene Richtung eingeschlagen haben, die zu seinem Kind führte.
Frau Dr. Weide ließ es nicht zu, dass Ingrid mit anfasste, als sie Stefan Becker mit ihrem Mann zum Haus trug. Deshalb lief Ingrid schon voraus.
Petra hockte noch auf dem Sofa. Sie hatte sich brav in die Decke gewickelt. Bedrückt fragte sie: »Hast du ihn gefunden, Mutti?«
»Ja, Herr und Frau Dr. Weide sind hier. Ich komme gleich wieder zu dir.«
Petra hielt ihre Mutter am Kleid fest und sagte: »Aber Mutti, wenn das Katrins Vater ist, dann ist er doch ein schlimmer Mann. Er hat sie ja nicht mehr gewollt und deshalb im Zug gelassen.«
»Das verhält sich alles ganz anders, Petra. Ich werde es dir morgen erzählen. Bitte, geh lieber wieder ins Bett. Ich lasse dich im Schlafzimmer nicht lange allein. Jetzt will ich nur sehen, ob ich vielleicht gebraucht werde.«
Petra folgte ihrer Mutter, aber sie blickte scheu auf die Tür des kleinen Zimmers, hinter der sie Stimmen hörte.
Als Ingrid dieses Zimmer betrat, kam ihr die Ärztin schon entgegen und sagte leise: »Er ist nicht bewusstlos, wie wir zuerst dachten, er fiebert nur so stark und ist vollkommen apathisch. Mein Mann wird mich gleich nach Hause fahren und danach wieder zurückkommen. Wir möchten Sie mit dem Kranken nicht allein lassen.«