dass Sie so sensibel sind. Aber offenbar hat Sie mein Verhalten irritiert«, sagte er ihr auf den Kopf zu.
Wendy konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Sie haben vielleicht vergessen, dass ich seit vielen Jahren in der Praxis Dr. Norden arbeite, mit sehr vielen Menschen zu tun habe und mir einbilde, eine recht gute Menschenkenntnis entwickelt zu haben.« Meistens jedenfalls!, sagte eine hämische Stimme in ihrem Ohr und erinnerte sie unwillkürlich an Edgar von Platen. In diesem einen Fall hatten sie ihre Fähigkeiten im Stich gelassen. Aber war irren nicht menschlich? »Ihr offensichtlicher Wankelmut hat mich irritiert. An einem Tag haben Sie mich zum Essen eingeladen, um mich in den kommenden Tagen mehr oder weniger zu ignorieren.«
»War es wirklich so schlimm?« Alexander Gutbrodt war sichtlich schockiert. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Na ja, ich hab es überlebt«, lächelte Wendy versöhnlich. Auf keinen Fall wollte sie aus einer Mücke einen Elefanten machen.
Doch Alexander schien anderer Meinung zu sein.
»Nein, nein, ich möchte, dass Sie mich verstehen. Deshalb werde ich Ihnen meine Geschichte erzählen.« Er hielt inne und drehte das leere Glas in den Händen. »Aber ich muss Sie warnen. Es ist keine sehr schöne Geschichte«, gestand er und schickte Wendy einen flehenden Blick.
Unwillkürlich zog sich etwas in ihr zusammen, erlosch fast ihre Freude über diesen bisher gelungenen Abend. Schon wieder ein Mann mit Problemen! Auf einmal war sich Wendy nicht mehr sicher, ob sie seine Geschichte noch hören wollte. Plötzlich sehnte sie sich nach ihrer Wohnung – ohne Edgar von Platen natürlich, der dort noch immer beharrlich residierte – nach Ruhe, Entspannung und Einfachheit. Doch nun war sie zu weit gegangen. Es gab keinen Grund, Dr. Gutbrodt nicht zuzuhören, und leise seufzend gab sie sich geschlagen.
»Ich bin daran gewöhnt, unschöne Geschichten zu hören«, erklärte sie sachlich, und stockend begann ihr Begleiter zu erzählen.
*
Obwohl Dr. Verena Schreiner und auch Dr. Daniel Norden dringend von der Hochzeit abgeraten hatten, fand sich eine kleine Gesellschaft vor dem malerischen Standesamt in der Münchner Mandlstraße ein. Nur Dr. Daniel Norden und seine Frau Felicitas sowie Dr. Verena Schreiner waren eingeladen. Die große Feier mit Familie und Freunden sollte erst später stattfinden, wenn die geheim gehaltene Operation, hoffentlich mit positivem Ergebnis, über die Bühne gegangen war.
»Sie sind sehr blass«, stellte Daniel fest, als er Manfred Holler begrüßte. Mit unverhohlener Sorge musterte er seinen Patienten im schwarzen Dreiteiler, der ihm – schlank und gut gebaut, wie er war – ausnehmend gut stand. Im Normalfall hätte dieser Anblick jedes Frauenherz höher schlagen lassen. Wenn er nicht so elend ausgesehen hätte.
Es war Manfreds Geheimnis, dass er sich nur noch mit den starken Schmerzmitteln aufrecht halten konnte, die Dr. Schreiner ihm für den Notfall mitgegeben hatte. Doch dies war ein Notfall. Und wenn es das Letzte war, was Manfred tun konnte: Er wollte Nataschas sehnlichsten Wunsch erfüllen und sie heiraten, auf seinen eigenen Beinen und aufrecht stehend.
»Es geht schon«, winkte er daher tapfer ab und rang sich ein Lächeln ab, das unbeschwert wirken sollte. »Das ist nur die Aufregung vor der Hochzeit. Schließlich gibt man ja nicht jeden Tag ohne Zwang seine Freiheit auf und unterwirft sich dem Joch der Ehe.« Er bemühte sich um einen amüsierten Ausdruck in den Augen.
Doch er konnte Dr. Norden nicht täuschen, der seine Frau Fee besorgt ansah.
Gemeinsam warteten sie vor der Tür des Trausaals, bis sie aufgerufen wurden.
»Alles in Ordnung, Freddy?«, fragte auch Natascha besorgt.
Sie trug ein schlichtes elfenbeinfarbenes Kostüm. Ihr braunes Haar fiel glatt und glänzend über den Rücken. In den Händen hielt sie den Brautstrauß, einen Traum in creme und dunkelrot, und sah ihren zukünftigen Ehemann ernst an.
»Solange du bei mir bist, ist alles bestens«, murmelte er und drückte ihre Hand, als die Tür zum Trauungssaal geöffnet wurde und der Standesbeamte sie hereinbat.
Trotz ihrer Schlichtheit war die Zeremonie anrührend, und Fee tupfte eine Träne aus dem Augenwinkel, als Manfred und Natascha die Ringe tauschten. Dr. Verena Schreiner, die die Suche nach einem Mann längst aufgegeben hatte, beschloss insgeheim, es vielleicht doch noch mal zu versuchen. Schließlich gab es in diesen modernen Zeiten vielfältige Möglichkeiten, auch mit wenig Zeit Männer kennenzulernen. Das Internet und seine zahlreichen Singlebörsen war nur eine davon. Damit hatte sie ihr Glück bisher nicht versucht, und insgeheim nahm sich Verena vor, sich gleich am selben Abend dort anzumelden.
»Wenn die Eheleute und die Trauzeugen jetzt bitte unterschreiben wollen«, unterbrach der Standesbeamte ihre Gedanken und bat sie und Dr. Norden neben Natascha und Manfred an seinen Schreibtisch.
»Oh Freddy, ich war noch nie so glücklich«, flüsterte Natascha ergriffen und konnte den Füller kaum halten, so sehr zitterten ihre Hände. »Jetzt ist unsere Schicksal untrennbar miteinander verwoben.«
Manfreds Miene war undurchdringlich. Er hatte kaum seine Unterschrift unter die Dokumente gesetzt, als es geschah. Ohne einen Laut sackte er in sich zusammen und stürzte zu Boden.
»Freddy!!!« Nataschas gellender Schrei hallte durch den kleinen Saal. Sie fiel neben ihrem Mann auf die Knie. Dass ihr schöner Rock schmutzig wurde, kümmerte sie nicht.
Sofort war Dr. Schreiner auf Manfreds rechter Seite. Behutsam drehte sie ihn auf den Rücken und fühlte den Puls.
»Er hat das Bewusstsein verloren.«
»Ich rufe einen Krankenwagen.« Schon zückte Dr. Norden sein Mobiltelefon und drückte die Taste, unter der die Nummer der Behnisch-Klinik eingespeichert war.
Fassungslos kniete Natascha neben ihrem frisch angetrauten Ehemann. Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht, aus dem jede Farbe gewichen war.
»Das ist alles meine Schuld«, stammelte sie und sah Verena hilflos dabei zu, wie sie Manfred in die stabile Seitenlage brachte. »Warum nur musste ich auf der Trauung bestehen? Ich hätte doch wissen müssen, wie schwach er ist …«
Beschwichtigend legte Verena Schreiner die Hand auf ihren Arm.
»Alles hat seinen Sinn, auch wenn wir ihn in den entscheidenden Momenten nicht erkennen können«, versuchte sie, die aufgeregte Braut zu beruhigen, als auch schon das Martinshorn gedämpft durch das ehrwürdige Gemäuer schallte.
Sichtlich erleichtert stürzte der schockierte Standesbeamte hinter Dr. Norden nach draußen, froh, der schrecklichen Situation entrinnen zu können. So etwas hatte er noch nie erlebt. Und wollte es tunlichst auch nicht mehr.
Nur wenige Minuten später war Manfred Holler auf dem Weg in die Klinik. Da Dr. Norden und Dr. Schreiner den Krankentransport begleiteten, war kein Platz mehr für Natascha.
»Ich muss zu Freddy!«, weinte sie und starrte hilflos dem Wagen nach, wie er mit Blaulicht die belebte Straße entlangfuhr und schließlich um eine Ecke verschwand. »Ich will bei ihm sein, wenn …«
»Im Augenblick können Sie für Ihren Mann nichts tun«, unterbrach Felicitas Norden die unglückliche Braut mit sanfter Stimme. Tröstend legte sie ihr einen Arm um die Schultern. »Mein Mann und Frau Dr. Schreiner mit ihrem Team werden alles tun, damit Ihr Mann den Eingriff gut übersteht.«
»Aber nach der Operation?«, beharrte Natascha in ihrer Verzweiflung. Ihre Vernunft schien sich in Luft aufgelöst zu haben.
Doch Fee war erfahren genug, um dieses Phänomen zu kennen und entsprechend damit umgehen zu können.
»Nach der Operation wird Manfred auf die Intensivstation verlegt und engmaschig überwacht werden. Er wird sehr erschöpft sein und Sie aufgrund der starken Medikamente wahrscheinlich gar nicht erkennen«, erklärte sie behutsam.
Diese vernünftigen Worte ließ sich Natascha durch den Kopf gehen.
»Dann …, dann sollte ich jetzt heimfahren?« Undenkbar, jetzt alleine in der Wohnung zu